Twenty Years Hunde, Hitze und die Liebe

Berliner Midlife Romance

Eine Hitzewelle in Berlin, zwei grundverschiedene Menschen und ihre Hunde

1. LEONORA

Heute werden wieder 36 Grad im Schatten erwartet und die ganze Stadt ächzt unter den extremen Temperaturen. Berlin verzeichnet sie seit Wochen. Was wird uns erst der Sommer bescheren, wenn schon der Mai alle Hitzerekorde sprengt? Unfassbare 1,7 Grad Erderwärmung sind bereits Realität geworden und die 2-Grad-Marke lauert am Horizont. Mir ist klar, dass meine Möglichkeiten, darauf Einfluss zu nehmen, denkbar gering sind. Doch ich werde alles tun, um es wenigstens zu versuchen. Deshalb stolziere ich heute schwitzend in meinen High Heels über den Berliner Messedamm. In wenigen Minuten präsentiere ich im Kongresszentrum ICC die Ergebnisse meiner jüngsten Studie. Solche Vorträge halte ich nur dann, wenn es unbedingt sein muss. Eigentlich wäre ich jetzt lieber zuhause.

Zuhause? Bei dem Gedanken beschleicht mich ein mulmiges Gefühl. Es ist noch keine Stunde her, dass ich die Wohnung verlassen habe, und schon mache ich mir Sorgen. Nina ist mit ihm allein. Ob das gutgehen wird? Die beiden müssen den ganzen Tag ohne mich zurechtkommen.

Es wird funktionieren, Leo. Ich zupfe nervös am Kragen meiner Bluse und glätte die Säume meines Blazers. Hör auf zu grübeln, Leo  mach lieber deinen Job ... Genau. Deshalb bin ich hier. Entschlossen lenke ich meine Gedanken auf meine Präsentation, straffe meine Schultern und gehe auf den Eingang des Kongresszentrums zu.

 

2. ANTHONY

Es ist 9:59 Uhr und ich werde ungeduldig. Wieder und wieder poppt Joys Bild auf meinem Display auf, weil ich seit über ner halben Stunde vergeblich auf mein Handy starre. Warten war nie meine Stärke. Wann zum Teufel bequemt sich Thomas endlich ins Kongresszentrum?

Ich versuch, mir ne Locke hinters Ohr zu fummeln, doch sie rutscht mir sofort wieder zurück ins Gesicht. Fuck! Letzte Nacht ist im ICC wieder eingebrochen worden. Thomas wird wenig begeistert sein und ich hörihn jetzt schon. Gebets- mühlenartig wird er die bekannten Schwachstellen unseres Sicherheitssystems beklagen. Mich braucht er damit nicht zuzutexten. Er soll die uralten Schlösser reparieren, damit das Gebäude wieder dicht ist, bevors dunkel wird.

Ich stopf mein Handy zurück in die Hosentasche. Eigentlich wollte ich mich an diesem Freitagmorgen zurücklehnen. Es ist schon fast Wochenende. Aber auch nur fast. Meine Schicht hat gerade erst angefangen. Schon nach dem letzten Bruch vor acht Wochen hab ich gesagt, dass wir den Außenbereich richtig absichern müssen. Ich habs kommen sehen und warnte laut und deutlich davor. Doch es ist nichts passiert. Mein Antrag zur Aufstockung des Sicherheitsbudgets wurde wieder geblockt, weil in der Finanzverwaltung nur Idioten sitzen.

Noch mal feg ich mir die Haare aus der Stirn und schwör mir, dass sie nächste Woche runterkommen. Mit Kopf im Nacken mach ich für n Moment die Augen zu und lausche. Ich hör absolut gar nichts, was tatsächlich die gute Nachricht des Tages ist. Die Klimaanlage läuft  und das will was heißen. Zugegeben, es ist n bisschen viel des Guten und recht frisch im Haus. Gestern wurden die Filter ausgetauscht. Vermutlich wirds am Mief im ICC auch nichts ändern. Das gesamte Belüftungssystem muss erneuert werden. Wie so vieles andere in diesem maroden Schuppen ... Ich trommle aufs Handy in meiner Hosentasche. Verdammt, Thomas  mach hinne!

Zehn Kreuze, wenn endlich Wochenende ist. Ich werd joggen gehen. Die hohen Temperaturen jucken mich genauso wenig wie Joy, die südafrikanische Wurzeln hat. Sie mags heiß und wir werden im Grunewald am Teufelsberg laufen. Danach kühlen wir uns im Teufelssee ab. Falls der nicht wieder wegen ner Algenpest gekippt ist. Letztes Jahr passierte das schon im Juni. Voll krass. Aber dass gerade kein Lüftchen weht, ist ideal fürs Kajaking. Mit Fritz und Chris werd ich am Sonntag in Brandenburg paddeln, danach grillen wir auf Fritzens Datscha.

Zum x-ten Mal guck ich zum Haupteingang, wo kein Thomas zu sehen ist. Die ersten Leute kommen ins Foyer. Sie sind total überhitzt und ich muss grinsen. Die Beschlipsten haben rote Köpfe und in ihren dunklen Klamotten sehen sie aus wie ne in Rage geratene Beerdigungsgesellschaft. Aber keiner rümpft die Nase. Die neuen Filter der Klimaanlage bringen es.

 

3. LEONORA

Ich betrete das Kongresszentrum und finde mich mitten in einer schwitzenden Menschentraube wieder. Erstaunlich, dass wir uns freiwillig die in dieser Hitze aberwitzige, aber vorgeschriebene Uniform antun. Wir tragen Business. Unfunktional, unbequem und unerträglich. Zumindest farblich mache ich mit meinem taubenblauen Hosenanzug mein eigenes Ding. Nina nennt ihn sogar sexy, weil er meine in Expansion begriffenen Linien kaschiert und mit meinen Augen korrespondiert. Ja, korrespondiert hat sie gesagt. Jeder weitere Gedanke gefriert, als mich im Foyer die eisige Luft empfängt. Geschockt verharre ich im Schritt und für einen Moment setzt mein Atem aus. Gott, ist das kalt! Ich fühle, wie sich auf meinem ganzen Körper eine Gänsehaut ausbreitet. Was ist das hier  ein Eishaus?! Im ICC erleiden wir Erfrierungen, während draußen die Stadt kocht. Dieses künstliche Kältespektakel verbraucht horrende Mengen an Strom. Die übertrieben kalte Luft fühlt sich falsch an, weil sie den heutigen Kongress ad absurdum führt. Als wolle sie meinem überhitzten Körper Glauben machen, es gäbe noch so etwas wie Zufluchtsorte. Zufluchtsorte sind ein Trugschluss. Niemand wird der Erderwärmung entkommen!

Einen Augenblick verschnaufe ich, um mich zu akklimatisieren, und setze die Sonnenbrille ab. Mein Blick schweift durch die Eingangshalle. Hier hat vor langer Zeit meine Laufbahn als Wissenschaftlerin ihren Anfang genommen. Alles wirkt vertraut. Die Bodenbeläge, die Leuchten, die Einrichtung ... Es ist, als wäre im ICC die Zeit stehengeblieben. Vor über zwanzig Jahren war ich hier beim allerersten Vortrag meiner Karriere vor Aufregung einer Schnappatmung nahe. Als junge Forscherin starb ich regelmäßig kleine Tode. Ständig stellte ich mich in Frage, war unsicher, ob ich meine Untersuchungen richtig anging, ob ich die Daten korrekt erhob und die richtigen Messmethoden wählte. Ich hasste meine öffentlichen Auftritte und zweifelte an mir. Dass es kaum Kolleginnen meines Fachs gab, verunsicherte mich zusätzlich. In den Agrarwissenschaften überwog der Anteil an Männern mehr als deutlich und im Publikum saßen auch kaum Frauen. Daran hat sich bis heute nur wenig geändert. Inzwischen habe ich promoviert und das panische Hascherl von früher ist Geschichte. Irgendwann machte es KLICK und ich begriff endlich, dass Wissenschaft kein Hexenwerk ist. Wissenschaft ist ein Job und ich mache ihn erstklassig. Und genau das ist das Schöne am Älterwerden: Ich weiß, wer ich bin und was ich kann.

Heute habe ich einen hellen Lippenstift und etwas Mascara aufgelegt. Früher konnte ich noch so ungeschminkt und zugeknöpft auf dem Podium stehen  für etliche Kollegen war nur mein Aussehen von Interesse. Vor allem meine Oberweite. Diese Männer gibt es noch immer. Sie sterben nicht aus und wachsen kontinuierlich nach. Inzwischen wird generationsübergreifend geglotzt, obwohl ich in die Jahre gekommen bin. Doch ich lasse mich davon schon lange nicht mehr aus dem Konzept bringen. Sollen die Kollegen glotzen  mir geht es um die Sache, meine Forschung, um den Erkenntnisgewinn. Und dass das gar nicht so schwer ist, weiß ich ja längst. In der Wissenschaft wird auch nur mit Wasser gekocht. Genauso wie in der Liebe ... In der Liebe? Gott, wieso denke ich plötzlich an Liebe?! Was für ein sonderbarer Gedanke. Die Liebe ist kein Thema mehr für mich. Ich habe keinen Partner und ich möchte auch keinen. Ich bin satt. Nein, das bist du nicht, Leo. Okay, okay. Wahrscheinlich beschreibt vernünftig meine Einstellung besser. Das Single- Dasein ist vernünftig, entspannt und unkompliziert. Ich kann tun, was ich will, mich jederzeit mit meinen Freunden treffen und bin niemandem Rechenschaft schuldig. Ich kann arbeiten, wann, wo und so lange es mir passt. Und genau das möchte ich. Und ich habe außerdem einen Hund. Im Gegensatz zu einem Mann weiß der meine Fürsorge zu schätzen ...

Mein ehemaliger Lebensgefährte kommt mir in den Sinn. Habe ich David geliebt? Warum frage ich mich das?! Wieso stelle ich mir, keine zwanzig Minuten, bevor ich hier die Bühne betrete, solche sentimentalen Fragen? Ich habe schon lange nicht mehr an David gedacht. Damals glaubte ich, in ihn verliebt zu sein. Heute bin ich mir nicht mehr sicher.

Und wann hattest du zuletzt Sex? Die Frage blitzt wie ein Schlaglicht auf. Grell und vollkommen unerwartet. SEX ... Meine gedanklichen Manöver sind wirklich erstaunlich. Es muss diese lang anhaltende, unglaubliche Hitze sein. Die Wärme macht einiges mit uns Menschen. Und mit unseren Hormonen. Das Licht der Sonne und die Wärme wirken auf den menschlichen Körper wie ein Aphrodisiakum und steigern so die Libido. Bei Männern wie bei Frauen wird die Durchblutung der Geschlechtsorgane angekurbelt und das entfacht die Lust. Ja, ich gebe es zu, die astronomischen Temperaturen sind anregend. Ich spüre es deutlich. Ein grimmiges Lächeln huscht über mein Gesicht. Ich bin nicht hier, um über die erotisierende Wirkung der aktuellen Hitzewelle nachzudenken.

Wer heute zu diesem Kongress anreist, kann die Auswirkungen der Klimakrise an jeder Ecke der Hauptstadt sehen. Ganze Grünflächen sind bereits verödet, Insekten und Vögel verschwunden. Aus dem Genuss, im späten Berliner Frühling in einem Straßencafé zu sitzen, ist eine schweißtreibende Anstrengung geworden. Berlin, früher Europas grünste Stadt, verdorrt. Manchmal denke ich, dass es erst so weit kommen musste. Es braucht die Extreme, um die Aufmerksamkeit der Menschen zu erregen. Vielleicht muss es erst unmöglich sein, sich im Sommer auf deutschen Straßen aufzuhalten, müssen noch mehr Wälder und Parks vertrocknen und brennen, bis die letzten Großhirne es endlich begreifen.

Hier und heute werde ich meinem Publikum die Botschaft eines ungebildeten Bauern aus einem Entwicklungsland überbringen. Ausgerechnet ein Indonesier entdeckte in einem unbeabsichtigten Feldversuch die spektakulären Effekte von Mikroorganismen, die das Zeug dazu haben, unsere von Extremwetterereignissen gebeutelte Landwirtschaft umzukrempeln. Drei Jahre lang begleitete ich das Realexperiment und die Ergebnisse sind spektakulär.

Meine Gedanken wandern nach Indonesien und sofort fröstle ich in der künstlich heruntergekühlten Luft des Kongresszentrums. Ich atme tief ein und mein empfindlicher Geruchssinn registriert etwas unverwechselbar Schales. Es kommt mir bekannt vor und katapultiert mich unweigerlich zum Anfang meiner Laufbahn zurück. Damals roch es genauso unangenehm wie heute. Aber wie kann das sein? Ich schnuppere in alle Himmelsrichtungen. Schon geht meine Fantasie mit mir durch. Ich sehe mich in einer Jahrzehnte alten Atemwolke erschöpfter Messebesucherinnen. Unaufhaltsam schleicht sich eine beunruhigende Frage in mein Bewusstsein: Ist das dieselbe Klimaanlage von damals? Nicht die gleiche, sondern dieselbe? Wenn ja, sind ihre Filter jemals ausgetauscht worden? Ich wische den Gedanken beiseite und mein Blick wandert zur großen Uhr am Ende der Eingangshalle. Ich bin gut in der Zeit. Ohne Eile schlendere ich in Richtung Anmeldung.

4. ANTHONY

 

Was haben wir denn da? Zwischen den dunkel Beschlipsten ist ein blauer Farbtupfer. Es ist ne kleine Blondine in eis- blau. Inmitten der Trauergemeinde wirkt sie wie n schillernder Paradiesvogel. Sie bleibt stehen und schiebt ihre dunkle Sonnenbrille auf den Kopf. Wow. Die ist echt ne Beauty  das seh ich aus der Entfernung. Sie hebt ihr Kinn und dreht ihren hübschen Kopf langsam von links nach rechts und wieder zurück. Was zum Teufel macht die Frau? Es sieht aus, als würde sie schnuppern. Wie n verdammtes Kaninchen. Und jetzt kommt das, was kommen muss: Sie kraust die Nase und runzelt ihre Stirn. Sie riechts.

Shit! Ich habs ja geahnt. Der Gestank ist immer noch da. Egal.

Sie hat echt appetitliche Kurven. Sowas krieg ich hier nur selten zu sehen. Und ihr Mund  Jesus! Ihre Lippen sind voll und pastellorange. Wie heißt die Farbe noch gleich? Apricot. Meine Ex hatte rattenscharfe Unterwäsche in dieser Farbe ... Auch ihr Outfit ist ungewöhnlich. Damit ist sie reif fürs Fernsehen. Die meisten Frauen versuchen ja vergeblich, mit Businessklamotten und ihren hohen Absätzen so zu tun, als wären sie selbstsicher. Diese Eisprinzessin hier ist anders. Obwohl ihre Heels voll hoch sind, stolziert sie auf den Dingern wie ne Filmdiva. Sie verstellt sich nicht. Ich mag selbstsichere Frauen. Wie alt mag sie sein? Ganz jung ist sie definitiv nicht mehr. Aber ihre Ausstrahlung ist echt der Hammer. Und sie ist blond. Ich steh auf blond.

Krieg dich wieder ein, Fields!

Blondie bleibt stehen, guckt zur großen Uhr und trödelt dann in Richtung Check-in für Referenten. Wenn sie sich da registriert, wird sie n Vortrag halten. Na, das wär ja der Bringer des Tages! Aus diesem Mund würde vermutlich selbst die Einführung in die Neurosenlehre, der Waschzettel von Paracetamol oder die Gebrauchsanleitung eines Autos verlockend klingen. Ich bin zwar noch nie ner Frau hinterhergelaufen, doch wenn sich so n Paradiesvogel ins Kongresszentrum verfliegt, solls so sein. Wie von selbst macht sich meine schlechte Laune vom Acker. Das Geklacker ihrer Heels ist Musik in meinen Ohren und ich kann mir grad nichts Schöneres vorstellen, als ihr nachzugehen.

 

5. LEONORA

 

Was würde Assis, der indonesische Bauer und Held meiner aktuellen Studie, denken, könnte er mich in diesem Hosenanzug sehen? Assis kennt mich nur im schmuddeligen Outdoorlook einer Tropenreisenden. Er hat seine kleine Insel nie verlassen und besitzt keinen Fernseher. Schon Jakarta, die Hauptstadt seines Landes, wäre für ihn wie ein anderer Planet. In diesem Outfit würde mich Assis für einen Alien halten.

Assis und ich begegneten uns vor einigen Jahren in seinem Dorf, als er gerade eine spektakuläre Entdeckung machte. Er hatte von der Straße eine Flasche mit einer unbekannten Substanz aufgelesen und seine vor sich hinkümmernden Hibiskus- pflanzen damit gegossen. Er impfte sie, ohne es zu wissen. Später beobachtete Assis ein ungewöhnliches Wachstum und großen Blütenreichtum. Seine Pflanzen hatten kaum Schädlinge und kamen mit deutlich weniger Wasser zurecht  auch in der Trockenzeit, in der der Bauer sie häufig zu gießen vergaß. Auf der geheimnisvollen Flasche waren englische Worte abgedruckt und wie es der Zufall wollte, schlürfte ich im Dorf gerade einen köstlichen indonesischen Kaffee, den Kopi Susu, als Assis mich ansprach ...

Mit dieser Einleitung werde ich meine Präsentation beginnen, denn die Story ist einfach zu schön, um sie dem Publikum vorzuenthalten. Das erste Bild wird den üppig blühenden Hibiskus zeigen, das zweite den Kopi Susu und das dritte den Bauern in seiner Alltagskleidung: Assis mit seinem von der Tropensonne vorzeitig gealterten Gesicht und seinem unbeschreiblichen Lächeln. Der junge Bauer wirkt, als könne er mein Vater sein, und doch bin ich zweiundzwanzig Jahre älter. Kaum driften meine Gedanken nach Indonesien, fühle ich Fernweh in meiner Brust und bekomme Sehnsucht nach Assis, seiner warm- herzigen Familie und seinen üppigen Feldfrüchten.

Aber du bist hier in Deutschland, Leo. Ja, leider. Doch immerhin werde ich mich für das heutige Schauspiel in der nächsten Woche mit einem Keramikseminar belohnen. Jedes Jahr töpfere ich auf einem alten Bauernhof in Norddeutschland und kann es kaum erwarten, die feuchte Erde mit meinen Händen zu bearbeiten. Während ich mich lächelnd hinter den Wartenden am Check-in einreihe, sehe ich mich bereits in Schleswig-Holstein, als mich plötzlich laute Musik zurück ins ICC holt.

Ups! Das ist ja mein Smartphone! Es klingelt mit Twenty Years, meinem Lieblingssong von Placebo. Glückwunsch, Dr. Hildt! Vermutlich sind die Riffs bis ins Foyer zu hören. Die Wartenden drehen sich um und werfen mir miss- billigende Blicke zu. Gott, wie unangenehm! Beschämt greife ich nach meiner Handtasche und wende mich ab, bevor sich der vor mir stehende Lockenkopf auch noch umdreht. Fieberhaft fische ich nach meinem Telefon, doch störrisch wie immer weigert es sich, von mir gefunden zu werden. Wo bist du, du verdammtes Ding? Die Handtasche rutscht mir von der Schulter. Oh, bitte nicht! Mein ganzes Sammelsurium ergießt sich auf den Boden. 

Himmel, muss das jetzt sein?

Als ich mein Handy entdecke, singt Brian Molko längst die erste Strophe des Songs. Rasch sinke ich in die Hocke, stelle meine Anzughose auf eine gefährliche Zerreißprobe und schnappe es. Ich sehe, wer es ist und halte den Atem an.

 

6. ANTHONY

Ich trau meinen Ohren nicht. Diese Gitarren kenn ich verdammt gut, aber hier im Kongresszentrum hab ich sie noch nie gehört. Endlich kapier ich, dass das n Handy ist. Es ist ihrs und es dudelt gerade Placebos Twenty Years. Voll krass, Mann! Ich dreh mich um und die Prinzessin dreht sich auch. Es ist ihr peinlich und sie kramt voll hektisch in ihrer Tasche. Mein Handy klingelt mit den ersten Riffs von Without You Im Nothing, dem genialen Placebo-Song, den Brian Molko zusammen mit David Bowie gemacht hat. Ist das n Zufall? Es gibt keine Zufälle, Fields. Diese Frau treff ich hier, weils so sein soll. Ihr Song macht mich echt platt. Professor Blondie steht auf Alternativrock. Dieser Tag hat doch noch Potential, sich in die richtige Richtung zu entwickeln. Hab ich grad meine Arbeit verflucht? Ich liebe meinen Job, Mann!

Vom hektischen Gefummel der Prinzessin weht ne Wolke ihres Parfüms zu mir rüber und jetzt schnupperich. Aber nicht wie n Kaninchen. Eher wie n Wolf, der die Witterung seiner Beute aufgenommen hat. Fuck, das Bild gefällt mir. Hmmm  was ist das? Sie riecht, wie sie aussieht: Super sweet. Exotisch. Heiß. Es wird immer schöner in ihrer Nähe. Wobei sie und ihre Handtasche keine guten Freunde sind. So wird sie dir abschmieren, Blondie. Und das Ding tuts. Laut- stark kracht es aufs Parkett und ich kann nicht anders. Ich muss grinsen. Sie stöhnt frustriert auf und ihr Sound fährt mir direkt in den Schwanz. Wow, das ist krass! Hastig hockt sie sich hin und ermöglicht mir damit n köstlichen Blick auf ihr herzförmiges Hinterteil. Noch mal wow! Was für ein Arsch! Wann hab ich zuletzt sowas in meinen Händen gehalten? Ist schon lange her. Zu lange! Ich stell mir vor, wie warm und weich er ist. Und, wie ich ihn fest mit meinen Händen packe. Genau das ist es, was ich jetzt will. Alter, was für ne rattenscharfe Vorstellung! Unterhalb meiner Gürtellinie meldet sich mein Zweites Ich. Es fängt tatsächlich an, sich dicke zu machen. Kann das wahr sein? Ich glotzner voll bekleideten Fremden auf ihren sexy Hintern und werd hart?

Fuck, reiß dich zusammen, Anthony! Wenn ich nur wüsste, wie. Brian Molko singt schon ne ganze Weile, als Blondie endlich ihr Handy am Ohr hat. Sie versucht, leise zu sprechen, aber ich versteh trotzdem jedes Wort. God dammit, ich habs ja gewusst, dass ihre Stimme super sexy ist. Tief und voll. I love it! Die Prinzessin spricht das andere Ende mit Nina an. Ich atme erleichtert auf. Warum zum Teufel beruhigt dich das, Mann? Na, weils beruhigend ist. Aber dass es um einen Kerl namens Heinrich geht, ist gar nicht gut. Heinrich? Was für n vorsintflutlicher Name! Ich würd meine Mutter auf ewig verfluchen, wär sie auf so ne bescheuerte Idee gekommen. Sicher ist dieser Heinrich Blondies temperamentvoller Prinz und Bettgenosse. Sie hat also n Kerl. Ich spür die Eifersucht in mir aufsteigen.

Mach dich nicht lächerlich, Fields. Diese Frau hat n Leben.

Natürlich hat ne Frau wie sie n Kerl! Vermutlich verteidigt dieser Heinrich das heimische Wasserloch und seine Prinzessin mit der Keule. Blondie stimmt für ihn ne engagierte Verteidigungsrede an. Mit jedem einzelnen Wort schwingen ihre Gefühle für den Kerl zu mir rüber. Sie scheint ihn zu mögen. Nein. Das ist mehr: Sie liebt ihn. IHN! Ich beiß die Zähne zusammen. Und ich dachte immer, Frauen, die so von ihren Kerlen sprechen, gibts nur im Film. 

Du bist NICHT ihr Prinz, Fields. 

Ich wärs aber gern. Liebend gern sogar! Fröstelt sie etwa? Es sieht so aus, als würd ihr n Schauer über den Rücken laufen. Kein Wunder. Es ist arschkalt im Haus. Fucking freezing. Die Klimaanlage orgelt viel zu hoch und das ist ne krasse Energieverschwendung. Ich muss das mit der Haustechnik klären. Ich könnte ihr mein Sakko geben und sie einfach umarmen. Und dann an mich pressen. Alter, das wär n Plan jetzt. Dann wird ihr ganz sicher wieder warm. Und du hättest bei ihr verschissen. Ja, vermutlich. Doch dieser Neandertaler Heinrich stachelt mich an. Ich will, dass die Frau auf mich aufmerksam wird  scheiß auf den Kerl! Ein Blick in ihre Augen, was gäb ich dafür! Wenigstens das.

Die Prinzessin beendet plötzlich ihr Gespräch  hat sie etwa meine Gedanken gehört? Unwahrscheinlich. Wie sollte sie? Sie fängt an, ihr am Boden rumliegendes Zeug einzusammeln. Das ist gut. Das ist sogar sehr gut, denn es gibt mir die Gelegenheit, den Gentleman zu spielen. Ich werd ihr helfen. Dann kann ich auch gleich n fachmännischen Blick auf ihre persönlichen Dinge werfen ... Ich grins in mich hinein. Ich werd ihr tief in die Augen sehen. So tief, dass ihr schwindelig wird.

 

7. LEONORA

Ich schaue schuldbewusst über meine Schulter und ich sehe eine perfekt kostümierte junge Frau. Wenn sie könnte, würde sie mich mit ihren Blicken töten. Was juckt es sie, dass ein Handy klingelt, wenn die Welt untergeht? Diese Frau im kleinen Schwarzen hat einige Jahre mehr auf dieser Welt vor sich, als ich. Es gibt Wichtigeres, Frau Kollegin! Überall in Europa versinken gerade ganze Regionen in sintflutartigem Regen. Auch bei uns ist die nächste Unwetterfront angekündigt. Der Starkregen wird in wenigen Tagen zu uns kommen. Unsere Böden sind so trocken, dass sie nichts aufnehmen können. Ich meine, das sollte Lady-in-Black Sorgen bereiten  nicht Brian Molko, der gerade meinen Lieblingssong trällert. Rasch wende ich mich wieder meinem Handtaschensalat zu. Der Klimawandel ist schneller, als wir Wissenschaftler dachten. Die prognostizierten Modelle und ihre Hochrechnungen haben sich als Untertreibung erwiesen. Das letzte Jahr war noch trockener und wärmer als das vorletzte. Und das vorvorletzte auch. Das geht immer weiter zurück bis in die achtziger Jahre, an die sich mit mir nur noch eine Handvoll Menschen erinnert. Neben der Neuen Deutschen Welle gab es damals Popper, Grufties und Punks. Ich gehörte Letzteren an und demonstrierte gegen den sauren Regen und Atomkraft. Im Hochsommer gab es heiße Tage, wie den heutigen. Tage. Es waren keine endlosen Wochen. Oder Monate. Als ich endlich mein Telefon in den Händen halte, schluchzt Brian am Ende der ersten Strophe.

Ja?, hauche ich atemlos in mein Telefon.

Er hats wieder getan, Leo!

Nina  hi! Was ist los? Ich möchte die Antwort gar nicht hören. Im Geiste gehe ich seine möglichen Fehltritte durch: Heinrich hat die Arbeitsplatte in der Küche abgeräumt oder den Mülleimer geplündert, vielleicht sogar meine Schuhe zerlegt  oder noch schlimmer: Ninas Schuhe ...?

Na, dein Heinrich ist los, Leonora  was sonst? Wenn meine Freundin meinen Namen in voller Länge ausspricht, ist es ernst.

Was hat er angestellt?, frage ich tonlos.

Heinrich ist den Nachbarn angegangen, und zwar richtig. Leo, so geht das nicht weiter. Ich kann ihn kaum noch besänftigen.

Ich weiß, was sie empfindet. Ich kenne das Gefühl, denn mir geht es täglich so. Das tut mir so leid, Nina. Was genau ist denn passiert?

Nina stöhnt genervt auf. Was passiert ist, willst du wissen? Heinrich und ich waren spazieren. Als wir zurückkamen, öffnete der Nachbar von gegenüber  du weißt schon, dieser finstere Alki  seine Wohnungstür. Das hat gereicht.

Aha, bemühe ich mich, gelassen zu klingen. Und was dann?

Na, was wohl! Heinrich knurrte ihn lauthals an  es war ein sehr böses Donnergrollen!

Ich atme auf. Solange mein Hund nur knurrt, ist es ganz normales Verhalten. Im Grunde kann ich Heinrich nur beipflichten. Nina, Heinrich kann den einfach nicht leiden  das ist alles. Er ist nicht aggressiv. Und der Typ von gegenüber ist echt unangenehm.

Du, dein Riesenbaby ist inzwischen ein Kalb. Ich kann ihn kaum halten. Wie viel Kilo wiegt Heinrich jetzt, fünfzig? Und er hat einen Satz auf ihn zugemacht.

Wem sagt sie das? Achtundsechzig Kilogramm Herdenschutzhund, männlich und in der Pubertät. Ich seufze ergeben. Mein Hund ist inzwischen schwerer als ich. Eine grässliche Szene. Aber Heinrich ist viel zu klug für einen Übergriff ... Als könnte ich sie und mich damit beschwichtigen, erfinde ich meinen Hund neu. So, wie er sein sollte. Du kennst ihn doch, er ist sensibel und sanftmütig. Ganz so, wie wir uns die Männer immer wünschen ... Wem willst du hier Märchen erzählen, Leo?

Ach was, entgegnet Nina. Diesmal hat er ihm sogar die Zähne gezeigt! Und wie eindrucksvoll Heinrichs Gebiss ist, brauche ich dir wohl nicht sagen ...

Himmel, nein! Jetzt muss ich schlucken. Wenig überzeugend antworte ich: Nina, er würde dem Nachbarn nichts antun. Er weiß einfach, dass ich den Typen nicht ausstehen kann. Aber: Du, ich bin grad beim Check-in. Lass uns heute Abend sprechen, okay?

Hastig beende ich das Telefonat und hole tief Luft. Viel länger werde ich meiner Freundin meinen kleinen, großen Hund nicht mehr zumuten können. Wie soll Nina nur die nächste Woche überstehen? Wenn ich in Schleswig-Holstein im Keramikseminar bin, zieht sie bei mir ein, hütet Heinrich und den Garten. Wahrscheinlich wird es das letzte Mal sein. Die einzige Lösung ist Anita, Berlins beste Hundetrainerin. Einen Plan zu haben, ist der halbe Weg zur Lösung. Ich werde mit Heinrich wieder bei Anita trainieren. Später werde ich einen Termin vereinbaren. Aber jetzt vertreibe ich meinen Hund aus meinen Gedanken.

Die Innereien meiner Handtasche liegen weit verstreut am Boden. Mein Taschenspiegel, das kleine Notizbuch, meinen Memorystick mit dem Vortrag und die lose Blattsammlung meiner Präsentation. Daneben mehrere Packungen Taschentücher, von denen ich nicht einmal ahnte, dass ich sie dabei habe, eine schlanke Box mit Tampons und Slipeinlagen, Pfefferminzpastillen und Kopfschmerztabletten. Mein Lippenstift und der Wohnungsschlüssel liegen am weitesten weg. Ich stöhne noch mal auf. Dann fange ich an, alles wieder einzusammeln.

 

8. ANTHONY

Die Stirn der Prinzessin liegt in Sorgenfalten. Sie denkt über das Telefonat nach. Ihr angeblich softer Prinz Heinrich scheint ein Neandertaler, ein Schläger zu sein. Komisch, dass eine wie Blondie sich auf ’nen Typen mit ’ner kurzen Lunte einlässt. Wie kann sie auf so ’n Vollidioten abfahren? Ich schnaube verächtlich. Ich hasse Typen, die sich nicht beherrschen können. Ich starr’ die Prinzessin an und hock’ mich vor sie. Sie bemerkt mich immer noch nicht. Mit fahrigen Bewegungen sammelt sie ihr Zeug ein. Echt krass, was Frauen so alles in ihren Handtaschen mit sich rumschleppen – wozu braucht Blondie so viele Taschentücher? Mir fällt Miriams Handtasche ein. Sie war immer prall gefüllt. Selbst, wenn sie nur zum Bäcker ging, um Brötchen für uns zu holen, hatte sie alles dabei. Versteh’ einer die Frauen. Mit einem Blick scann’ ich die Papiere, die zwischen ihren Sachen liegen. Vermutlich ist es ihre Rede. Die Prinzessin ist Old School. Sie druckt aus, was sie sagen will. Ob sie abliest? Oder spricht sie frei? Ich glaub’, sie spricht frei. Sie ist cool und kann das. Schmunzelnd schiel’ ich auf ihre losen Blätter. Es ist ihre Rede.

„Neue Agrarformen in Zeiten des Klimawandels – Wie die Dritte Welt uns das Überleben lehrt“ von Dr. Leonora Hildt

Aha. Sie hat also ’n Doktortitel. Klar hat sie den. Man sieht ihr an, wie schlau sie ist. Und sie ist was – Landwirtin? Blondie ist Bäuerin. Ein Bild von einer leicht bekleideten Prinzessin, die in halsbrecherischer Geschwindigkeit mit ’nem Traktor über ein Feld fegt, poppt auf. Das ist sexy. Sogar sehr sexy. Aber würde sie dann zu einem Agrarkongress kommen und ’ne Rede halten? Nee. Wahrscheinlich ist sie ’ne Forscherin. Eigentlich sind mir ihr Job und ihre akademischen Titel scheißegal. Was mich viel mehr interessiert, ist ihr Vorname. Frau Dr. Hildt hat einen Vornamen mit mehreren Silben. LEONORA. Leonora. Lee – ooo – noo – raa. Im Stillen flüster’ ich ihn, diesen Namen, den ich noch nie zuvor gehört hab’. Dieser Name hat einen Sound. Er klingt. Und er ist schön. Schön wie sie. Fuck, ich will ihn in ihr Ohr flüstern, während sie sich unter mir windet! Ja, das will ich. Alter, was fixt mich dieses Weib an und mein Zweites Ich auch. Leonora Hildt. Ich hab’ kein einziges Wort mit ihr gewechselt, oder auch nur ’n einzigen Blickkontakt mit der Frau gehabt – trotzdem weiß ich ganz genau, was ich will. Ich will sie vögeln. Jetzt sofort.

Schluss mit dem Kopfkino, Fields!

Man wird ja wohl noch träumen dürfen. Nach ’ner halben Ewigkeit hat die Prinzessin fast alles wieder verstaut. Sie langt nach ihrem Lippenstift – er heißt Velvety Peach, wenn ich das richtig entziffere – und ihrem Schlüsselbund.

Jetzt oder nie! Meine Hand schnellt vor und ich greif’ nach ihren Sachen. Sie erschreckt sich total und zuckt zusammen. Dann endlich schaut sie zu mir auf und – Alter, was ist das? Ich seh’ nur noch blau. Gosh, ist das BLAU! Mann, mir bleibt fast die Luft weg. Ihre Augen leuchten so hell wie der Himmel. Da ist ’n kleiner dunkler Rand, der ihre Iris rahmt und genau dieser Kontrast ist es, der ihre Augen strahlen lässt, wie nur was. Ist das Azur? Ich glotz’, wie ’n kom- pletter Vollidiot.

Du BIST ’n Vollidiot, Fields!

Mit einiger Mühe halt’ ich meinen Unterkiefer davon ab, nach unten zu klappen. Aber schein- bar bin ich nicht der Einzige, der hier staunt. Die Prinzessin starrt mich an, wie ’ne Erscheinung. Ich grinse, denn ich weiß, warum. Ja, Prinzessin. Ich hab’ DAS Grün und du DAS Blau. Wir halten uns fest – nur mit unseren Blicken. Himmel, sag’ was, Fields. Irgendwas! Ich kann kaum sprechen und krächze ’nen blöden Spruch. Ob sie den kapiert? Gemeint hab’ ich das Arschloch, ihren Nachbarn. Sie bleibt stumm. Ich schenk’ ihr mein schönstes Lächeln und lass’ den Lippenstift und die Schlüssel in ihre ausgestreckte Hand fallen. Ihre vollen Lippen öffnen sich. Endlich kann sie wieder reden. „Entschuldigung: Was sagten Sie gerade?“ Ich wiederhol’ meinen Spruch gerne noch mal für sie. Diesmal sprech’ ich extra deutlich und ganz tief.

„Ich sagte, ich würd’ dem Nachbarn was antun – auch, wenn Heinrich gezögert hat. Oder gerade deshalb ...“

Saudämliches Macho-Geschwätz, Alter.

Ihre Augen werden immer größer. Fuck, in denen könnt’ ich glatt ertrinken. Die Prinzessin holt tief Luft. In ihrem Kiefer fängt die Muskulatur an zu zucken. Sie regt sich total auf. Das ist voll süß. Ist sie sauer oder bekommt sie Fracksausen? Oder ist sie angefixt von mir? Wie ich von ihr? Ist es von allem etwas? Schnell kommt sie aus der Hocke hoch und ich tu’s auch. Ohne ihren Blick von mir zu lösen, streicht sie ihre Klamotten glatt. Spar dir das, Blondie – du bist gebügelt, wie filmreif. Jetzt atmet sie schnell und hektisch. Sie ist nervös und sie will weg. Sie will weg von mir. Ich kann’s in ihren Augen lesen.

Bitte nicht, Blondie, geh noch nicht! Du reagierst auf mich und ich auf dich.

Sie schwankt. Ist ihr etwa schwindelig? Vielleicht ist ihr Blutdruck zu niedrig. Bei diesem Wetter haben ja alle Leute Probleme. Ich weiß das, weil ich hier im Haus täglich damit zu tun hab’. Weil’s so superheiß ist, sind immer mehr Kolleginnen betroffen. Ja, ich glaub’, Frau Dr. Hildt ist zu schnell aufgestanden. Fuck, wie gern würd’ ich jetzt einfach zupacken, aber ich verkneif’ mir, ihre Ellenbogen zu schnappen und sie zu halten. Fuck, es kostet mich einiges. Jetzt, wo wir uns gegenüberstehen, seh’ ich erst, wie klein sie ist. Ich guck’ zu ihr runter und sie zu mir hoch. Ohne Schuhe ist sie mindestens anderthalb Köpfe kleiner als ich. Also ist sie round about 1,55 m groß. Das ist wirklich sweet! So’ne kleine Frau hatte ich noch nie.

Wach endlich auf, Mann. Sie ist nicht DEINE Frau, Fields. Na ja, was nicht ist, kann ja noch werden und die Vorstellung ist extrem verlockend. Ihre vollen Lippen öffnen sich. Blondie will was sagen. „Hören Sie ...“ am liebsten würd’ ich ihr das Mäulchen mit ’nem Kuss stopfen – aber auch das wäre zu früh. Besser, wir reden erstmal. Nein. Besser, ich rede jetzt. Ich unterbrech’ sie einfach: „Entschuldigen Sie, – ich habe mich noch gar nicht vorgestellt.“ Forsch streck’ ich ihr meine Hand hin. Ob sie zugreift? Bitte, Blondie. Bitte fass’ mich an. Ich saug’ jeden Zentimeter ihres Gesichts auf. Sie hat hell- blondes aufgestecktes Haar und ist leicht gebräunt. Außer der Wimperntusche und dem Orange auf ihrem sexy Mund entdeck’ ich keine Tünche. Da sind feine Linien um ihre unfassbar blauen Augen herum. Aber keine senkrechten Falten links und rechts vom Mund. Manche Frauen, die zu viel Ärger im Leben haben, kriegen die. Dr. Leonora Hildt nicht. Sie hat weiche Gesichtszüge. Und sie ist schön. Auch aus nächster Nähe. Bildschön sogar. Wie alt mag sie sein? Ich kann ihr Alter nicht schätzen. Sie wirkt reifer als von weitem – und noch attraktiver. Ob ich’s versuch’?

Sie ist viel zu alt für dich, Anthony, also lass es! Sie reicht mir tatsächlich ihre Hand und als ich zugreif’, zucken wir beide zusammen. Jesus, ihre Berührung ist wie ’n Stromschlag. Wir halten beide den Atem an. Bloody Hell! Alter, was ist das hier? Was funkt da zwischen uns? UNS? Ich starr’ sie an. Ich pack’ ihre Hand so fest, als würd’ unser beider Leben davon abhängen. Mein Zweites Ich drängt gegen den Reißverschluss meiner Jeans. Fuck, hoffentlich kann sie’ s nicht sehen. Ich versuch’ zu lächeln. Sein kein Idiot, Fields. Stell’ dich endlich vor – sonst läuft sie weg! Fuck, ja. Ihre Hand liegt warm und weich in meiner. Ihr Mund ist voll und schreit danach, geküsst und gevögelt zu werden. Ich könnt’ die Vorstellungsrunde glatt ausfallen lassen.

Sag’ ihr endlich, wer du bist, Mann!

Ich reiß den Blick von ihrem saftigen Aprikosenmund los und drück’ ihre Hand umso fester. „Anthony Fields, Sicherheitsmanagement des Kongresszentrums und mehr ... ich meine, ich bin mehr als erfreut, Sie kennenzulernen, Frau Dr. Hildt ... Und das ...“ Die Prinzessin starrt mich nur an und ich ertrink’ in ihrem Blick. Fuck, was soll ich ihr erzählen? Dass sie schön ist, hat sie vermutlich schon tausend Mal gehört. „... das Blau Ihrer Augen ist ..., was soll ich sagen ... es ist atemberaubend ...“

Geht’s noch bekloppter? Du versemmelst es, Fields!

Sie starrt mich nur an. Ihr Teint verändert sich. Ihr Gesicht wird rosig und ihre Wangen haben plötzlich Farbe, als wären sie angemalt. Ist das zu fassen? Die Frau wird rot wie ’n junges Mädchen! Jesus, ist das sweet. Für ’n Moment ist sie still. Dann kommt endlich ’ne Reaktion. Ihre Augen werden schmal. Sie ist sauer und funkelt mich böse an. Aber wieso?

Ich hab’ dir nichts getan, Blondie – noch nicht. Das war ’n Kompliment, wenn auch ’n plattes.

Ihr Name ... Ok, für ihren Namen bin ich ihr ’ne Erklärung schuldig. „Bitte lassen Sie mich das erklären, Frau Dr. Hildt: Sie haben Ihre Papiere fallen lassen.“ Zwischen ihren Augen taucht ’ne Zornesfurche auf und das paradiesische Blau verdunkelt sich wie vor ’nem Sturm. Dann wird ihr Gesicht plötzlich wie- der weich. Was ist das? Jetzt lächelt sie mich an. Entspannt sich Frau Dr. Hildt wieder? Ich werd’ aus der Frau nicht schlau. Sie strahlt mich an. Mich! Jesus, das fühlt sich gut an! Sie legt ihren schönen Kopf auf die Seite und schlägt verführerisch die Augen nieder. Alter, was macht sie da? Die Prinzessin himmelt mich an und öffnet ihr süßes Mäulchen. „Herr Fields! Die hiesige Klimaanlage, Berlins größte und älteste Keimschleuder, ist Ihnen ganz sicher an Lebensjahren weit überlegen!“ Schnell fährt ihre Zungenspitze über ihre Unterlippe. Mein Schwanz zuckt. Und meine Eier auch. „Und sie stinkt. Kümmern Sie sich darum. Außerdem ist sie ein hoch infektiöses Gesundheitsrisiko! Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich muss zum Check-in.“

Was hat das Hildt-Weib grad gesagt? Fuck, ja. Die Klimaanlage ist tatsächlich steinalt. Aber die verdammten Filter wurden erst gestern ausgetauscht! Und wie sie es gesagt hat! Dieser schnippische Ton – die Frau spricht mit mir, wie mit ihrem Hofstaat. Nee, wie mit ’nem Kind oder einem Deppen! Ich krieg’ keinen Ton raus und grins’ sie nur an. Aber nur kurz, dann bin ich wieder am Start: „Ja, hochgradig infektiös und dafür, dass Sie’s auch sind, gibt’s keine Entschuldigung, Dr. Hildt.“ Ich lass meine Tonlage bis tief in den Keller sinken. „Genau das sind meine Sicherheitsbedenken ...“

Blondie erstarrt. Tja Mädchen – jetzt bist du platt. 

Sie versucht, mir die Hand zu entziehen, aber das kann ich nicht zulassen. Ich halt’ sie fest. Scharf saugt sie die Luft ein und ich kann sehen, wie ihre Nasenflügel beben. Ihre blauen Ozeane sprühen Funken, weil sie weiß, was ich empfinde. Soll sie! Fuck, ich könnt’ sie hier und jetzt ...

Dammit, Fields! Lass sie endlich los, bevor dich das deinen Job kostet. 

Widerwillig geb’ ich ihre Hand frei. Es tut fast weh. Sofort macht die Prinzessin ’n Schritt zurück. Ich weiß, jetzt wird sie mir eine klatschen und ich hab’s verdient. Aber da kommt nichts. Sie guckt mich fassungslos an und dann dreht sie sich plötzlich um. Dr. Leonora Hildt rauscht mit fliegenden Fahnen in Richtung Check-in und ich glotz’ ihr nach, wie dem siebten Weltwunder. Dem für immer verschwindenden Weltwunder. Warum fühl’ ich mich jetzt beschissen? Krieg’ dich wieder ein, Fields! Ich will mich nicht wieder ein- kriegen. Ich will nicht, dass Blondie geht. Soll’s das etwa schon gewesen sein? Sie soll stehenbleiben und sich noch ein einziges Mal zu mir umdrehen! Die Prinzessin marschiert weiter. Ich kann nicht anders. Ich muss ihr was mit auf den Weg geben. Und sei’s noch so bescheuert ...

„Velvety Peach schmeichelt Ihren Lippen, Dr. Hildt ...“, rufe ich ihr nach.

Einfach nur total bescheuertes Gequatsche ...

„... und Heinrich ist ein beneidenswerter Glückspilz!“

Jetzt bleibt sie tatsächlich stehen, doch sie dreht sich nicht um. Plötzlich zuckt ihr rechter Arm seitwärts und sie zeigt mir den Mittelfinger. Ich glaub’, ich träume. In diesen Hallen? Das ist voll krass! Das ist mehr als krass, Mann. Bevor ich weiter über diese reife Frau mit Teenagertemperament staunen kann, vibriert’s in meiner Hosentasche. Es sind die ersten Riffs von „Without You I’m Nothing“ und im Gegensatz zu Frau Dr. Hildts Telefon klingelt meins leise. Wie recht ihr habt, Brian und David: Ohne sie bin ich nichts. Ich greif’ mein Handy und bell’ wütend hinein. „Das wurd’ aber auch Zeit, Thomas! Hier kocht die Luft, Mann. Wann kannst du endlich hier sein?“

 

9. LEONORA

Die grünsten Augen, die ich je gesehen habe, fixieren mich und augenblicklich fühle ich mich nackt bis auf die Knochen. Wer ist das? Ist das der Lockenkopf aus der Warteschlange? Sein Haar ist wirklich wunderschön. Er beginnt zu sprechen. Seine Stimme hat ein warmes Timbre und klingt doch bedrohlich. Ein Schauer jagt über meinen verschwitzten Rücken und nur mit Mühe widerstehe ich dem lächerlichen Drang zu erröten. Ich senke den Blick auf seinen Mund, dessen Lippen einen beinahe femininen Schwung haben. Unter seiner frisch rasierten Haut erkenne den dunklen Schatten von schwarzem oder dunkelbraunem Bartwuchs. Im Vergleich zu seinem markanten Kiefer ist seine Nase beinahe zierlich. Sein dunkles, gelocktes Haar ist voll und hat keinen einzigen silbernen Faden. Die Brauen liegen tief, fast direkt über seinen funkelnden Augen. Was für ein sinnliches Männergesicht! Ich schlucke. Der hat mir vor meinem Auftritt heute gerade noch gefehlt!

Unter solchen Blicken schmolz ich regelmäßig dahin, als ich jung war. Aber das bin ich nicht mehr. Außerdem bin ich beruflich hier. Ausschließlich beruflich. Ich räuspere mich. „Entschuldigung: Was sagten Sie gerade ...?“ Grünauge lächelt verständnisvoll. Weiß er, wie unsicher mich sein Blick macht? Er legt meinen Lippenstift und den Schlüsselbund in meine ausgestreckte Hand und mit dem schönsten Lächeln, das ich seit langem in einem Männergesicht gesehen habe, wiederholt er seine Worte. Irgendwo in meinem Kopf versanden sie.

Ich kann ihn fühlen. Himmel, die Präsenz von diesem Mann ist überdeutlich. Seine Blicke auf mir zu spüren ist, als würde er mich berühren. Die Intensität seiner Augen erinnert mich an leuchtendes Seegras, das sich in einer seichten tropischen Dünung wiegt. Da sind kleine Lachfältchen und sehr lange dunkle Wimpern, die seine Augen umgeben. Für einen solchen Augenaufschlag bemüht eine wie ich allmorgendlich ihren Mascara. Ich kann nur schweigend seinen Blick erwidern. Sein sinnlicher Mund öffnet sich und gibt ein Lächeln mit strahlend weißen Zähnen preis. Zwischen seinen Schneidezähnen blitzt eine niedliche kleine Lücke auf.

Himmel, Leo! Der Mann ist allerhöchstens Ende zwanzig. Ende zwanzig! Ich beschwichtige mich selbst. Dieser Schönling ist Kontinente, nein, Galaxien von meinem Revier entfernt. Und doch hält sein stechender Blick meine Augen fest und hindert sie, sich von seinen zu lösen. Leonora Hildt, du bleibst auf dem Teppich!Teppich? Ja, genau. Ich bleibe auf dem Boden der Tatsachen. Ungelenk erhebe ich mich aus der Hocke und meine Knie- gelenke knirschen. Ich versuche, meine steif gewordenen Glieder auf den ungewohnten zehn Zentimeter hohen Pumps auszubalancieren. Grünauge folgt meiner Bewegung und kommt in die Höhe. Wie beiläufig registriere ich seine Kleidung und sehe zu ihm auf. Er ist Mitarbeiter des Kongresszentrums. Am Revers seines Sakkos baumelt eine ICC-Staff-Card und er trägt Casual. Gott, was beneide ich ihn um sein T-Shirt, die legere Jeans und seine komfortablen Chucks! Jetzt spüre ich meinen unbequemen Hosenanzug noch deutlicher. Und die mich folternden Pumps. Er ist ein großer Mann, aber kein Riese. Vermutlich 1,85 Meter. Mein Augenmaß ist zuverlässig, selbst in Augenblicken wie diesen. Wir starren uns an und schweigen. Je länger wir einander ansehen, desto animalischer wirken seine Augen. Ich sehe, wie das Lächeln aus seinem Gesicht verschwindet und plötzlich ist es, als würde sich die Luft zwischen uns aufladen.

Schluss jetzt – bereite dem ein Ende, Leo!

Ich will, aber ich kann mich nicht rühren. Ich höre das Blut in meinen Ohren rauschen. Mein Herz beginnt zu trommeln. Sein Blick wandert zu meinen Lippen und es fühlt sich an, als würde er mich leidenschaftlich küssen. Küssen. Was ist das? Dann endlich streckt er seine Hand aus und spricht etwas lauter. Ich lausche seiner dunklen Stimme. Sein Name ist das Einzige, was ich verstehe: Anthony Fields. Das ist ein englischer Name. Während ich noch darüber nachdenke, ergreife ich seine Hand. Die Berührung jagt durch mich hindurch, als wäre er statisch aufgeladen. Ohne mein Einverständnis bahnt sich Hitze einen Weg durch meinen Körper.

Du reagierst auf diesen Kerl wie ein Teenager.

Wenn ich nur wüsste, wieso ich mich gerade wieder wie siebzehn fühle. Spürt er es auch? Sein Händedruck und sein Blick dringen tief in mein Inneres. Ich fühle mich vollkommen wehrlos. Als wäre ich ein Hase, der dem hungrigen Wolf ins Auge sieht. Sein Griff ist fest. Sehr fest. Hast du ihm erlaubt, dich festzuhalten, Leo? Nein, natürlich NICHT! Behauptet dieser Mann gerade, Sicherheitsmanager im ICC zu sein? Das kann Anthony Fields seiner Mutter erzählen. Er ist ein Canis Lupus und eine ernsthafte Gefahr für die weibliche Allgemeinheit. Dann beginnt der Wolf zu sprechen und jetzt kann ich ihn laut und deutlich hören. In meiner Gegenwart kommen ihm die Worte scheinbar nur schwer über die Lippen. Mr. Security Fields stottert ein Kompliment. Wenn er endlich meine Hand loslassen würde, wäre sein jungenhaftes Stammeln süß. Ohne es verhindern zu können, schießt in Nanosekunden eine mich empfindlich an meine Pubertät erinnernde Hitze ins Gesicht. Himmel, ich werde tatsächlich rot! Mein Gott, dieser Kerl soll endlich aufhören, mich mit seinen animalischen Blicken aufzufressen! Ein selbstgefälliges Grinsen legt sich auf sein Gesicht. Woher weiß er überhaupt meinen Namen? Als könnte Anthony Fields den Vorwurf aus meinen Gedanken herauslesen, beginnt er, sich zu rechtfertigen. Sein Blick wandert erneut zu meinem Mund und meine Nackenhaare stellen sich auf.

Himmel Leo, reiß dich endlich zusammen!

Eine Woge Ärger erfasst mich. Was für eine dreiste Anmache mitten im Kongresszentrum. Wann hat es ein Mann zuletzt geschafft, mich derart zu verunsichern? Es kommt selten vor und wenn doch, macht es mich wütend. Ich atme tief ein und wieder aus. Seinen Griff ignoriere ich. Dreist kann ich auch, Babyboy! Mit einem zuckersüßen Lächeln haue ich ihm die vorsintflutliche Klimaanlage des Kongresszentrums um die Ohren. Mit Referenz auf sein Alter. Im Stillen applaudiere ich mir selbst, weil ich noch genauso flüssig pariere, wie in meiner Jugend. Sein schöner Mund steht offen.

Und jetzt troll dich zurück in deinen Kindergarten, Grünauge!

Mr. Security Fields ist sprachlos, doch leider hält er mich wenig jungenhaft weiter fest. Ich versuche, ihm meine Hand zu entziehen, doch sein Griff wird nur noch fester. Er starrt mich an und wie ein stummes Versprechen bohrt sich sein Grün in mich hinein. Mein Puls jagt mit mir davon und ich spüre, wie Adrenalin meinen Körper flutet. Längst vergessene Erregung steigt in mir auf und einen Moment lang stockt mein Atem. Um Himmels willen, atme, Leo! Ich hole tief Luft und zerre an meiner Hand, als würde mich der Teufel persönlich festhalten. Was de facto der Fall ist. Gefühlte Stunden später gibt er mich endlich frei. Schnaubend vor Wut trete ich einen Schritt zurück. Während die Süße zwischen meinen Schenkeln lieblich nachhallt, rasen tausend Worte durch meinen Kopf, doch ich bleibe still.

Dein Körper lässt dich im Stich, Leo! Ja, verdammt, das tut er! Wie gern würde ich ihm meinen Ärger in sein schönes Gesicht schreien. Dieser selbstgerechte Möchtegern-Macho hat es mehr als verdient. Doch meine Reputation werde ich ganz sicher nicht gefährden. Lautstark ist ohnehin nicht mein Stil. Wort- gewaltig, ja. Tatsächlich würde ich ihn am liebsten schlagen, doch meine gerade frei gewordene Hand zeigt keine Bereitschaft, ihn zu ohrfeigen. Im Gegenteil: Sie sendet ein verstörendes Signal zu meinem Gehirn. Ein Vermisstensignal. Seine Berührung fehlt mir. Ich weiß, dass es falsch ist, aber genauso fühlt es sich an. Verdreht und surreal.

Geh’ einfach und schenk’ ihm nicht noch mehr von deiner kostbaren Lebenszeit.

Ich werfe meinen Kopf in den Nacken, wie eine empörte Diva und lasse ihn stehen. So schnell es auf den Heels geht, rausche ich zur Anmeldung. Wahrscheinlich denkt er, ich laufe vor ihm davon. Und wenn schon! Besser das als ein Handgemenge. Dieser Mann ist unfähig, seine Hände zu kontrollieren. Ich kann seine bohrenden Blicke in meinem Rücken spüren. Was, wenn er mich jetzt verfolgt? Oder mir in aller Öffentlichkeit eine Szene macht? Das traue ich ihm zu. Dann könnte ich ihm endlich eine kleben. Mit Schmackes, mitten in sein schönes Gesicht. Und ihm sagen, was ich von ihm halte. Und kaum denke ich daran, ruft er mir nach. Abrupt bleibe ich stehen. Was bildet sich dieser Mann eigentlich ein? Ich schalte auf Autopilot und mein rechter Arm schnellt zur Seite. Ohne mich umzudrehen, hebe ich meine Hand und zeige ihm das, was er verdient: meinen Finger.

Wenn dich die Kolleginnen sehen, Leo! Ganz schnell ziehe ich meinen Arm zurück und stopfe meine Hand in die viel zu kleine Hosentasche. Was ist nur in mich gefahren? Anthony Fields, verdammt noch mal! Beschämt schiele ich von links nach rechts und halte Ausschau nach vertrauten Gesichtern. Ich habe Glück. Niemand achtet auf ihn oder mich. Ich setze mich wieder in Bewegung. Unbeirrt halte ich meinen Kurs. Sein teuflischer Blick brennt sich in meinen Rücken und verwandelt meine Muskeln zu Stein. Und ein beängstigender Gedanke schleicht sich in mein Bewusstsein: Anthony Fields ist Mitarbeiter des ICC und kann sich Zugang zu meinen Kontaktdaten verschaffen. Was wird ihn davon abhalten? Vielleicht übertreibe ich und er hat mich einfach nur plump angemacht. Wegen der Hitze und weil ich blond bin. Ich erreiche den Schalter und wische meine Gedanken an ihn beiseite. Im Handumdrehen checke ich ein und über mein Gesicht huscht ein entschlossenes Lächeln. Ich rufe mir das Intro meines Vortrags ins Gedächtnis. Zeit für Dr. Hildt. Mit entschlossenen Schritten gehe ich zum Saal 5.

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