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Textprobe:
Erleuchtung für Zweifler. Eine spirituelle Reise nach Thailand, Laos und Kambodscha
Einführung
An diesem frühen Novembermorgen ist der Moskau Airport fast menschenleer. Verwaiste Stühle und Tische stehen vor den Restaurants, die Türen der Geschäfte sind noch geschlossen.
Klimaanlagen summen leise, keine Stimmen sind zu hören. Kaum ein Mensch streift durch die endlosen Gänge und Hallen. An diesem Ort der Massen wäre die unwirkliche Stille beunruhigend, ginge mein Flug nachmittags nicht weiter nach Bangkok. Ich bin in Hochstimmung, meine lang ersehnte spirituelle Reise hat begonnen. In ein thailändisches Kloster wird sie mich führen und durch die Buddha-Länder Laos und Kambodscha. Im Handgepäck ist jener Mann, der jüngst ganz überraschend die Bühne meines Lebens betreten hat.
Ziellos schlendere ich durch den verlassenen Flughafen, nehme nur am Rande die BBC-News
wahr, die tonlos auf großen Flatscreens laufen. Die Gedanken spazieren zurück zu den mühsamen
vergangenen Wochen und Monaten. Ich sitze fest auf einem Job. Anfangs erschien er so
verheißungsvoll, doch er entpuppte sich rasch als energiefressender Alptraum. Zahllose Stunden
Lebenszeit verschlingen die täglichen Fahrten von Berlin nach Brandenburg und die
allabendliche Suche nach einer neuen Arbeit. Unmerklich kreuze ich die Vierzig, finde mich über
all die Zeit nachsinnend wieder, die mich meine folgenreiche Anstellung inzwischen kostet.
Traurig und wütend macht mich diese verzwickte Lebenslage. Und eine große Sehnsucht wächst
in mir. Eine Sehnsucht nach Momenten des Glücks und nach Sinn. Sah ich mich bislang
halbwegs überzeugt, mit meinem Sein und meinem Handeln einen angemessenen Platz in meiner
Umwelt einzunehmen, regieren nun die Zweifel. Gefangen im Hamsterrad ringe ich um
persönliche Selbstdefinition in meiner Arbeit, suche nach einer sinnvollen Beschäftigung, jener
vermeintlichen Absicherung vor Unbill im Wohlstandsleben.
Mit Erschrecken nehme ich Veränderungen an mir wahr. Meine Empathie und mein Wohlwollen
für andere schwinden dahin. Das will ich nicht, und es macht mir Angst. So unabänderlich meine
Lebensumstände erscheinen − vielleicht kann ich mich ändern? Meine Haltung zum Leben? Ich
muss es versuchen, denn so kann es nicht bleiben, auf keinen Fall will ich weiter verhärten.
Deshalb meditiere ich nun. Ein bisschen kann ich es schon und übe während unvermeidlicher SBahnfahrten
zur Arbeit, in sinnlosen Meetings im Betrieb oder hier im Flughafen. Äußerlich
bleibt alles, wie es ist, doch jetzt beobachte ich meine Gedanken aus einer neuen Perspektive. Die
vergeudet geglaubte Lebenszeit füllt sich nun mit Sinn. Und auf dieser außergewöhnlichen Reise
darf es sehr viel mehr sein. In Thailand werde ich in die Meditation eintauchen. Sehr tief,
vielleicht sogar in Abgründe. Extreme haben mich schon immer gelockt. Womöglich falle ich
auseinander, in Einzelteile, muss mich danach neu zusammensetzen, Stück für Stück. Das Bild
weckt die Vorstellung von Neuerung, vom Phönix aus der Asche. Und wenn das zu hoch
gegriffen ist, eröffnet sich hoffentlich eine neue Sicht auf das Dilemma meines Lebens und
bereitet den Weg für einen Wandel.
Es brummt, und am Ende des Ganges tauchen zwei Gestalten auf. Blau uniformierte Putzfrauen
rangieren eine elektrische Wischmaschine über den makellosen Granitboden des Flughafens.
Mühelos steuern sie das große Gerät in langen Bahnen und schnattern aufgeregt miteinander. Der
Boden glänzt, als wäre er gerade erst verlegt worden. Alles hier ist neu. Selbst die Toiletten des
Flughafens wirken vollkommen unberührt. Es scheint kaum vorstellbar, dass hier je ein Mensch
seine Notdurft verrichten wird.
Eine einzelne Reisende verlässt die Toiletten in dem Moment, da ich eintrete. Im Spiegel schaut
mir das Alter − und der Stress der letzten Zeit − mitten ins Gesicht. Heute Morgen betrachte ich
meine müden Züge mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Wenige Tage vor
Reisebeginn schlagen die Wogen des Lebens nochmal hoch. Ich werde gekündigt – die
Belegschaft auch, der Betrieb wird zum Jahresende abgewickelt. Die Kollegen stornieren
gebuchte Flüge und Urlaubsreisen, ich fliege trotzdem. Jetzt erst recht. Es ist unwahrscheinlich,
bis 1. Januar noch einen neuen Job zu finden. Die Arbeitslosigkeit danach ist mir wohl so sicher
wie mein reservierter Platz im Vipassana-Kloster in Thailand. Ein Lächeln huscht mir über die
Lippen. Die Freiheit winkt, und in wenigen Wochen wird die Plackerei ein Ende haben.
Dabei gibt es Dinge, die so unabänderlich scheinen, als würden sie die Ewigkeit repräsentieren.
In meiner Jugend war das die Ära Helmut Kohl. Er ging, nach sechzehn Jahren. Jetzt erreicht
mich die Nachricht des Tages, die immerzu von den großen Bildschirmen flimmert: Aung San
Suu Kyi ist frei! Die burmesische Oppositionspolitikerin wurde nach fünfzehn Jahren von der
herrschenden Militärjunta Myanmars aus dem Hausarrest entlassen. Die Menschen des
gebeutelten Landes triumphieren über das Militär. Immer wieder sehe ich die Wiederholung der
Nachricht und werde ganz warm im Herzen. Das ist ein angemessener Auftakt für diese
Asienreise, die mit einem Meditationsseminar der Extreme beginnen wird. Zehn Tage lang vom
frühen Morgen bis weit nach Sonnenuntergang werde ich meditieren − bei radikalem
Kommunikationsverbot −, so ich es schaffe, das durchzuhalten. Ich habe keinen Schimmer, was
da auf mich zukommt, ob mein Körper dieser Herausforderung gewachsen sein wird und mein
Geist. Wird mein Rücken diese Aufrichtung dulden, werden die Knie solche Zwangshaltungen
tolerieren? Wird aus meinem Herzen alle Trauer hervorgelockt, die ich je empfunden habe? Oder
werde ich an der Ernsthaftigkeit meines eigenen Handelns zweifeln, das Ganze gar für einen Witz
halten, der agitiertes Kichern provoziert? Oder bricht eine ungeahnte Wut sich Bahn, die sich in
den letzten Jahren unmerklich in mir aufgebaut hat? Ich weiß es nicht. Noch nicht.
Die Stille des Flughafens ist wie ein Vorgeschmack auf das Schweigen im Kloster. Sie macht
mich schläfrig. Ohne Eile streune ich zu meinem Gate, strecke mich aus auf einer Bank in der
noch leeren Wartehalle. Bevor die Müdigkeit mich übermannt, sind die letzten Gedanken dem
Mann gewidmet, der seit einigen Wochen meinen schnöden Alltag verzaubert. Er bringt die
schon vergessen geglaubte Sinnlichkeit in mein von Existenzängsten und Sinnfragen gebeuteltes
Leben zurück. Mein Herz macht einen Satz, wenn ich einen Artikel über ihn lese oder plötzlich in
der Stadt sein Gesicht auf Kinoplakaten entdecke. Und am Ende dieser Reise werde ich ihn zu
einem tropisch-romantischen Rendezvous wiedersehen.
Wie aus weiter Ferne träufeln Stimmen in mein Ohr. Der Flughafen erwacht zum Leben. Erste
Aufrufe von Abflügen erfüllen das Gate, und Gemurmel wird laut. Ratternde Rollläden fahren
hoch, die Restaurants und Geschäfte öffnen ihre Türen. Es ist früher Nachmittag geworden, und
um mich herum finden sich Reisende ein. Wolken sü.en Parfums schweben durch die Luft.
Verschlafen reibe ich mir die Augen, recke und strecke die steifen Glieder. Viele durstige
Menschen versammeln sich am Gate. Vielleicht ist bei der russischen Airline Aeroflot Alkohol
an Bord nicht gestattet? Noch am Boden kippen Frauen und Männer Beinhartes in sich hinein, als
gäbe es kein Morgen. Schnell ist es mit der Ruhe vorbei, ihre Stimmen erheben sich, werden laut
und schrill. Die unschuldigen Toiletten empfangen die ersten torkelnden Gestalten. Nach der
Abfertigung des Fluges werden die Putzfrauen eine Menge zu tun haben. Fasziniert schaue ich
dem Treiben der Russen zu, bis der Aufruf des Fluges erfolgt. Eine alkoholisierte Woge Mensch
setzt sich in Bewegung, schwappt auf die Gangway und treibt mich mit sich ins Flugzeug.
1. Kapitel Reisebeginn − hochprozentig und heiß
Die Begrü.ung der Flugbegleiterinnen an Bord ist kühl. Kein Lächeln entgleitet ihnen, ihre
Gesichter sind verriegelt. Es gibt schönere Beschäftigungen, als ein ganzes Flugzeug
Volltrunkener den langen Weg bis Bangkok zu verpflegen. Doch Buddha prüft uns alle, auch
mich. Eingezwängt zwischen zwei komatös benebelte Männer kauere ich mich in den Sitz. Mit
verschwitzten Händen fuchteln die beiden übergewichtigen Herren in der Luft herum, scheitern
lange beim Schließen ihrer Sicherheitsgurte. Eine Stewardess langt zu, hilft mit steinerner Miene
nach. Die Maschine stinkt erbärmlich. Den kollektiven Entgiftungsbemühungen der Passagiere
vermag die Klimaanlage an Bord nur wenig entgegenzusetzen. Aufgeheizte Gemüter verlangen
lautstark nach Service, die Unterhaltungen werden gebrüllt. Erstmals kann ich während eines
Fluges nicht lesen. Auch Meditieren ist undenkbar. Ich schließe die Augen und lasse mich
einhüllen von Lärm und Gestank.
Die Geräuschkulisse beschwört lebhafte Bilder meines ersten Arbeitstages im Brandenburger
Gro.raumbüro herauf. Er liegt inzwischen gut zweieinhalb Jahre zurück, doch die Erinnerung ist
so deutlich, als wäre es gestern gewesen. Der Betrieb, ein Callcenter, hatte erst vor wenigen
Wochen im obersten Geschoss eines schicken Neubaus seine Arbeit aufgenommen und war noch
im Aufbau begriffen. Die ersten Kolleginnen telefonierten schon. Es waren Krankenschwestern,
die kranke Menschen medizinisch berieten. Gegen die alten Gewohnheiten der kranken
Menschen und für die Anregung von neuen Impulsen sollte ich ins Spiel kommen und mein
Beratungsfeld die Gesundheitsförderung mit Verhaltensänderung sein. Das hilft besonders, wenn
man chronisch krank ist.
Das Callcenter überraschte mit seiner Geräumigkeit und stilvollen Einrichtung. In allen
Arbeitsbereichen waren die Wände pastellgelb getüncht und harmonierten mit beruhigendem
Blau am Boden. Üppige Grünpflanzen erfreuten sich an den gro.zügigen Fenstern, die viel
Tageslicht spendeten. Es fiel von allen Seiten ein – wie auch der Lärm. Es war laut, sehr laut
sogar. Lediglich von dünnen Pinnwänden getrennt, sprachen die Kolleginnen gegeneinander an.
Binnen weniger Wochen sollten hundertdreißig Mitarbeiterinnen die Beratung aufnehmen, und
ohne Lärmschutz würden sie ihr eigenes Wort wohl kaum noch verstehen.
‚Jeder, der sich in diesem Krach auf eine Beratung zu konzentrieren versucht, wird selbst
erkranken!‘, dachte ich bei meinem ersten Rundgang durch das Callcenter. Dann streckte sich mir
eine große Hand entgegen, und ein hemdsärmeliger Mitarbeiter hieß mich mit festen Griff
willkommen. Die Worte des Mannes erschlossen sich mir nur zum Teil, und das war weniger
dem enormen Geräuschpegel hier geschuldet. Ich bin wirklich nicht schwer von Begriff, aber ich
musste drei Mal hinhören und hegte den leisen Verdacht, dem Haushandwerker vorgestellt zu
werden. Doch die Dinge sind häufig anders, als sie scheinen. Der wenig wortgewandte
Altenpfleger war mein Chef.
An diesem ersten Arbeitstag kamen bereits Zweifel auf, ob ich mich in diesem Betrieb würde
verorten können. Am Ende der ersten Woche fühlte ich mich schon fehlplatziert und irgendwie
verloren. Doch das Schlimmste kam noch: Die Aufgabe, für die ich hier laut Arbeitsvertrag
antrat, gab es nicht. Stattdessen sollte ich Klinken putzen und im Minutentakt Menschen anrufen,
um sie zu überreden, sich beraten zu lassen. Ich war fassungslos. Acht Stunden am Tag sprach
ich eine kleine Handvoll Worte in einer Endlosschleife, wieder und wieder. Als
Gesundheitswissenschaftlerin und Sozialarbeiterin helfe und berate ich gerne − allerdings
Menschen, die aus freien Stücken zu mir kommen. Ich wollte nichts verkaufen oder irgendwem
etwas andrehen. Die Anstellung von Callcenter-Agenten wäre für das Unternehmen sicher
billiger gewesen und auch professioneller als meine ungelenken Mitwirkungsversuche.
Im Betrieb hatte das Chaos Methode. Eine staatliche geprüfte Hauswirtschafterin wurde die
rechte Hand des Gesch.ftsführers und zu seiner Assistentin gekürt. Vor lauter kreativen
Eingebungen und Freude beim Einrichten des Callcenters ging ihr der Lärmschutz durch die
Lappen − wie auch das Ablegen der Teilnahmeerklärungen von etwa vierzehntausend Kunden.
Da es in dem Laden sonst niemanden gab, der die Ablage machte, sortierte ich schließlich auch
noch diese Dokumente, was für mich mindestens so geistlos war wie die Klinkenputzerei.
Erstmals erfuhr ich am eigenen Leib, was es heißt, geistig unterfordert zu sein. Zuerst war ich
fassungslos und verzweifelt. Knapp vier Wochen brauchte es, die Unabänderlichkeiten im
Betrieb zu begreifen, dann begann ich, mich wieder zu bewerben.
Eine Pflegefachkraft nach der anderen wurde meine Chefin. Irgendwann waren wir bei Nummer
sechs angelangt, und ich war nicht mehr offen für neue Persönlichkeiten. Es gab keine
Personalabteilung, aber ohnmächtige Führungskr.fte, die nach Großgutsherrenart regierten und
es bis heute tun. Von Anfang an fiel mir der Austausch schwer. Eigentlich war er unmöglich,
denn keine der Chefinnen war von meinem Fach oder hatte den Erfahrungshintergrund, den ich
mitbrachte. Das Management beschloss irgendwann, sich selbst eine Gehaltserhöhung zu gönnen
– die Kollegen an der Basis gingen leer aus. Der Betrieb war miserabel geführt und blieb es, auch
wenn der Gesch.ftsführer ausgetauscht wurde – kluge Köpfe begegneten mir kaum. Inzwischen
beriet ich immer häufiger ratsuchende Kollegen, denn viele von ihnen waren krank, sehr krank
sogar.
An Bord ist es still geworden. Beharrlich schwebt der Akoholnebel über allen Reisenden. Doch
die Durstigen schlafen endlich. Eine Berührung reißt mich aus den Gedanken. Im ersten Moment
denke ich, es ist die Hand von meinem Prominenten. Mr. X hat schöne Hände mit langen feinen
Gliedern. Jetzt wünsche ich mir, diese Hände würden mich zärtlich berühren. Doch an meinem
Ellenbogen rüttelt eine ungeduldige Pranke. Der Dicke rechts am Fenster muss aufs Klo. Es
scheint dringend zu sein. Er haucht mir die Nachricht so russisch ins Gesicht, dass es mir den
Atem verschlägt. Der Sitznachbar links am Gang schläft. Mein vorsichtiges Antippen soll
verhindern, dass er aufschreckt, gefährlich mit den Armen rudert und dabei unkontrollierte
Schläge verteilt. Doch das geht dem Dicken rechts zu langsam. Rigoros langt er über mich
hinweg, wälzt seine mächtige Wampe auf mich und versucht den Schlafenden wachzurütteln. Ich
möchte aber keinen Russen auf meinem Schoß haben! Es bleibt nur, ihn lautstark und
handgreiflich wieder zurückzudrängen. Aber wer pinkeln muss, muss pinkeln. Ich klettere über den Linken am Gang hinweg. Es ist fraglich, welche Reflexe des Dicken noch funktionstüchtig sind, wie lange die Blase noch ihren Job macht, noch machen kann. Der Dicke von rechts kneift den Linken jetzt ganz ungeniert −
ohne Erfolg: Er schlummert selig weiter.Dann versucht der Dicke ebenfalls über die Armlehnen zu steigen.
Doch er ist viel zu
schwergewichtig und zu betrunken. Ich springe zur Seite, und es kommt, was kommen muss: Der
Mann verheddert sich mit einem Fuß und fällt der Länge nach vornüber. Schwer stürzt er, schlägt
mit dem Kopf auf und sinkt stöhnend zu Boden. Aus einer kleinen Wunde am Kopf sickert ein
Faden Blut. Offenbar ist auch die Kontrolle über die Blase futsch. Schnell breitet sich ein großer
dunkler Fleck auf seiner Jeans aus. Die ernsten Flugbegleiterinnen sind in der Bordküche zu finden. Sie handeln wortlos und rasch, pressen Verbandmull auf die Wunde. Mit erstaunlicher Leichtigkeit zerren sie das
Schwergewicht auf seine Beine und bugsieren den Mann routiniert zu den Toiletten. Wenig
später rüsselt der dicke Unglücksrabe in einer blauen Jogginghose auf seinem Fensterplatz.
Bangkok ist noch dreieinhalb Flugstunden entfernt.
Meine Gedanken wandern zurück nach Brandenburg. Der tägliche Weg in den Betrieb war
zwanzig Kilometer lang und verschlang jede Woche fünfzehn Stunden − unabhängig vom
gewählten Verkehrsmittel. Das waren mindestens drei Stunden Lebenszeit pro Tag. Flogen die
jahrelangen Verfehlungen der Berliner S-Bahn auf, ihre Züge zu warten − so jüngst geschehen –
verbrachte ich sogar vier Stunden im Schienenersatzverkehr. Oder mehr. Mich trieb die leidige
Pendelei auf das Fahrrad, mit dem ich in Berlin immer unterwegs gewesen war.
Tatsächlich waren die Radtouren die schönsten Momente des Tages. In der ausdauernden
Bewegung wurde ich weich und vermochte den Frust loszuwerden, der sich täglich neu formierte.
Dabei war ich weite Strecken in der Natur, traf neben Füchsen, Kaninchen und Rehen sogar auf
Uhus – ein großes Geschenk für eine Berlinerin, die im Zentrum lebt. Der Weg führte von
Charlottenburg in der westlichen Innenstadt entlang an vielen bunten Schrebergärten und den
alten Backsteinbauten von Siemens in Spandau immer weiter Richtung Norden. Über die
hölzerne Havelbrücke, wo morgens regelmäßig Kormorane ihre Flügel spreizten, um sich nach
dem Frühstückstauchgang zu trocknen. Die schönsten Teile der Strecke jedoch lagen im
Spandauer Forst, einem Waldstück am Stadtrand Berlins. Besonders im Morgengrauen duftete es
dort herrlich frisch. Der Wald ließ meine großstädtischen Ohren unbekannten Vogelstimmen
lauschen und mich nochmal tief durchatmen, bevor ich wieder ins Tollhaus musste.
Eines Morgens stand mitten auf dem Waldweg eine Bache – eine leibhaftige Wildsau. Mein
Fahrrad kam keine drei Meter vor ihr mit einer abrupten Vollbremsung zum Stehen. Ich hielt den
Atem an. Das imposante Tier wedelte mit seinem borstigen Schwänzchen und nahm meine
Witterung auf. Aus der Deckung des Unterholzes heraus lösten sich elf Frischlinge, die um die
Bache herumwuselten. Langsam und nichts ahnend kamen die Kleinen auf mich zu. Das
zwischen mich und die Meute gebrachte Fahrrad war ein lächerlicher Schutz. Kein Mensch war
weit und breit zu sehen, und ein Mobiltelefon besaß ich nicht. Die Straße im Wald war früh im
Morgengrauen kaum befahren. Doch bevor die Frischlinge bei mir angelangt waren, machte die
Bache eine resolute Bewegung mit ihrem großen Körper. Sie trieb ihre Jungen weg von mir, weg
von der Gefahr und zurück in den Wald. Zögernd folgte sie ihnen, drehte sich immer wieder um.
Gebannt wartete ich, dann war auch sie im Unterholz verschwunden. Einige Minuten stand ich
reglos da und wartete, bis mein Puls sich normalisiert hatte, dann stieg ich auf und fuhr weiter.
Bislang hatte ich gedacht, die neue Arbeit gefährde meine geistige Gesundheit. Offenbar stand
auch meine körperliche Unversehrtheit auf dem Spiel. Ich brauchte ein Mobiltelefon. So bei
einem Zusammenstoß mit wilden Tieren die Zeit bliebe, konnte ich Hilfe rufen. Beinahe zehn
Jahre widerstand ich nun dem Handy-Trend. Dass meine gesamte Mitwelt bereits ein Handy zu
besitzen schien, machte mich ja eher skeptisch. Es war bedeutend ruhiger und die Menschen
aufmerksamer gewesen, als noch nicht unaufhörlich in Mobiltelefone gequasselt und getippt
wurde.
Es widerstrebte mir, stets erreichbar zu sein. Bis zu dem Tag, da die mobilfunklose Ära zu Ende
ging und ich abends das Handy einer Freundin borgte. Doch es blieben Zweifel. In meiner
mädchenhaften Wunschvorstellung sollte es eine romantische Liebe sein, für die ich irgendwann
ein Mobiltelefon anschaffte. Ein Mann, dessen Nachrichten mir den Tag versü.en, mit dem ich
stets in Verbindung sein wollte. Keine mich zu Notrufen nötigenden wilden Schweine. Doch ich
war vernünftig: Safety first – auch während der Asienreise ist das Handy im Handgepäck – für
den Notfall. Jetzt ist es sogar mein eigenes.
Am Suvarnabhumi-Airport in Bangkok lasse ich die Erinnerungen an Deutschland hinter mir und
komme an. Und da ist es, das Glücksgefühl in meinem Bauch, das mich bei jeder Reise
überkommt. Ich kann es kaum erwarten, den ersten Fuß in die große heiße Stadt zu setzen. Im
Flughafen ist es noch kühl und geschäftig, wie in einem unterirdischen Ameisenhaufen. Meine
sturztrunkenen Mitreisenden und ihr unverwechselbarer Geruch verflüchtigen sich rasch,
mischen sich mit Menschen aus aller Herren Länder, die in Richtung der Einreiseschalter
strömen. In endlosen Schlangen kommen sie vorerst zum Stehen. Nur wenige Schalter sind von
Thaibeamten besetzt und geöffnet. Etwa achtzig Reisende harren vor mir in der Schlange. An
jeden Einzelnen wird die Aufforderung gehen, direkt in die kleine Kamera zu schauen, die ein
Foto für das Visum macht.
Eine Gruppe betagter Engländerinnen in bunten Sommerkleidern wartet vor mir. Ich lausche der
Melodie ihrer unverwechselbar britischen Unterhaltung. Die Ladys sind ohne männliche
Begleitung unterwegs und beglückwünschen sich dafür. Mit ihren großen Strohhüten auf den
Köpfen und um die Hälse baumelnden Sonnenbrillen sind sie bestens gerüstet für die
Tropensonne – und für das Warten in Schlangen. Die breiten Krempen der Hüte sorgen dort für
gebührenden Abstand, wo Ungeduldige zu dicht aufrücken oder ausscheren. Es sei denn, man
steht hinter Passagieren aus Moskau, wie es bei den Ladys scheinbar der Fall ist. Der dicke
Unglücksrabe aus dem Flugzeug ist mir unbemerkt zuvorgekommen. Kein bisschen nüchterner
schwankt er vor den Engländerinnen. Er trägt noch immer die provisorische Jogginghose von
Aeroflot. Die Ladys halten Sicherheitsabstand. Eine drückt sich ein Taschentuch vor die Nase
und wendet sich ab. „Bloody hell, this is disgusting!“ Ja, es ist wirklich widerlich. Nach gut neun
Stunden Flugzeit wird der Mann kaum angenehmere Düfte ausströmen als an Bord. Vielleicht
musste er sich zwischenzeitlich auch übergeben oder hat gerade ausgelassen gerülpst, wie auch
im Flugzeug so oft?
Eine weitere Begegnung mit dem Dicken ist im Kloster eher unwahrscheinlich. Dort herrscht
striktes Alkoholverbot. Jetzt muss der Dicke wieder aufs Klo, und hier hat er Platz. Er bricht aus
der Warteschlange aus und torkelt in Richtung Toiletten. Es kommt zu Kollisionen, denn sein
Weg kreuzt mehrmals die benachbarten Warteschlangen. Allerlei internationale Worte des
Unmuts löst er damit aus und verursacht bei Vollkontakten kleine Massenfluchten. Das Letzte,
was ich von ihm sehe, ist die blaue Jogginghose, dann ist er verschwunden.
Die Warterei ist eine wunderbare Gelegenheit, um das Meditieren zu üben. Erste Bekanntschaft
damit habe ich in einem buddhistischen Zentrum der Tibeter gemacht. In einem alten roten
Backsteinhaus, kaum zehn Minuten von meinem Berliner Zuhause entfernt, tauchte ich in die
Stille ein. Nach einem Arbeitstag im Getöse waren die Abende dort pure Entspannung. Anfangs
saß ich nur da und schnupperte den Duft der Räucherstäbchen, blinzelte dem großen goldenen
Buddha zu und atmete tief. Es dauerte ein wenig, bis die Konzentration auf die Anleitung zur
Meditation gelang. Nach einigen Wochen sickerten die Worte immer tiefer ein, und langsam
lernte ich zu meditieren. Bis heute empfinde ich Freude, sobald ich das alte rote Backsteinhaus
betrete. Im kalten Winter empfängt die große Meditationshalle mich mit molliger Wärme.
Klettert das Thermometer im Berliner Sommer auf über fünfunddrei.ig Grad, bleibt es dort
dennoch kühl. Ganz anders als hier in Thailand.
Bangkok ist heiß und laut wie immer. Es ist gleichgültig, zu welcher Tages- oder Nachtzeit man
ankommt – die Stadt ist immer wach, ihr feuchtwarmer Atem steht niemals still. Nachts wird das
Brummen der zahllosen Mopeds, Klimaanlagen und Autos nur etwas leiser und schwillt lange
vor Sonnenaufgang bereits wieder an. Es ist Nachmittag, und ich versuche unversehrt die
Straßenseite zu wechseln. Müde von der Reise stehe ich am Straßenrand. Die tropische Sonne
schwebt grell am Himmel. Der rasante Linksverkehr Bangkoks ist herausfordernd und verlangt
nach jenem Koordinationsvermögen, mit dem andere gesegnet sind. Eine wie ich kann in der
Hauptstadt Thailands leicht unter die Räder geraten. Dann endlich, nach einigen
Adrenalinschüben, wird ein Plätzchen im Gehirn frei und lässt mich die neuen Verkehrsregeln
begreifen: Den Kopf in die ungewohnte Richtung rechts drehen und augenblicklich dem Impuls
Losgehen folgen. Denn bliebe ich stehen, führe kein Fahrzeug langsamer. Tue ich bei einer
Lücke in der Blechschlange jedoch so, als hätte ich keines gesehen, und marschiere los, lassen
mich die motorisierten Bangkokians gro.zügig queren, wenn auch mit Hupkonzerten.
Auch auf den Fußwegen – so überhaupt vorhanden – muss auf jeden Schritt achtgegeben werden.
Große tiefe Löcher lauern in Gehwegplatten sowie Müll und Bordsteine von extremer Höhe.
Letztere verhindern das Fahren von Mopeds auf Bürgersteigen, lassen Fußgänger jedoch oft ins
Stolpern geraten. Hier in der Hauptstadt Thailands spüre ich, wie ich mit dem Leben
davonkomme, sei es nur auf dem kurzen Weg zum Bahnhof.
Mein erstes Ziel ist die Hua Lamphong Central Trainstation, ein alter Bahnhof, der im Zentrum
Bangkoks liegt. Wie Bienen schwärmen die Thais dort umher. Sie eilen vom Gleis in die große
Wartehalle, schleppen große Pakete mit sich und viele Kinder – manche einen Karton mit
lebenden Hühnern. Am Schalter lausche ich den fremden Worten und beobachte das emsige
Treiben. Morgen schon soll es in Richtung Kloster gehen, mit einer alten koksbetriebenen
Zuckelbahn in die Provinz Isaan im Nordosten des Landes. Es braucht eine kleine Diskussion, bis
der freundliche Mann in Uniform meinem Wunsch entspricht. Eine weiße allein reisende Frau ist
hier in Thailand etwas Exotisches: Sie braucht doch Aircondition und einen weichen Sitz, besser
noch eine Liege, weil die Fahrt so lang ist. Die Fürsorglichkeit des Beamten rührt mich. Er
möchte mir ein Erste-Klasse-Ticket verkaufen. Der Mann weiß nicht, dass ich zahllose Stunden
in der Berliner S-Bahn abgesessen habe. Mir erscheint eine Tagesreise frei von Sitzkomfort und
kalter Kunstluft wie Luxus. Sie bedeutet für mich unverfälschtes Erleben. Bestimmt lächle ich
zurück, und der Mann überreicht mir die Dritte-Klasse-Fahrkarte.
Beschwingt schlendere ich durch die mir noch vage bekannte Gegend rund um den alten
Bahnhof. Die Metropole Bangkok wird bei jedem Besuch vertrauter und bleibt doch beharrlich
fremd. Entweder lauert der Gestank von kompostierendem Abfall an der nächsten Ecke oder der
köstliche Duft einer mobilen Stra.enküche oder beides. Die Abgase der endlosen Blechlawinen
schweben über der Stadt. Am Ende einer Gasse trotzt ein kleiner Stand mit frisch gepressten
Fruchtsäften der gnadenlosen Sonne. Mit großem Durst steuere ich darauf zu. Zwei junge
Straßenhunde tollen hechelnd umher. Sie haben offenbar verlässliche Futterstellen und sichere
Schlafplätze, sehen noch unbeschadet aus. Eine Katze beobachtet das bunte Treiben aus einem
sicheren Hauseingang im Schatten. Frische Mangos, Ananas, Papayas und Zitrusfrüchte
schmücken die kleine Saftbar. Ein alter Mann deutet zahnlos lächelnd auf seine Schätze. Heute
soll es für mich Orangensaft sein. Der landestypische Orangensaft wird in Thailand gesalzen. Erst
ganz hinten auf der Zunge wird dieser scheinbare Widerspruch merkbar und möchte dann an
Deutlichkeit nicht mehr nachlassen. Bei jedem weiteren Schluck drängt er sich mehr auf und
breitet sich aus, wie so vieles im Leben.
Die Schritte werden größer, ich laufe schneller. Es ist kurz vor Sonnenuntergang, und die
Plagegeister Thailands, die Moskitos, sind da. Wie eine Heimsuchung fallen sie in den Stunden
der Dämmerung über alles her, was Nahrung verspricht – so auch über meine nackten Arme und
Beine. Freundliche alte Menschen sitzen in den Gassen vor ihren Häusern. Sie lächeln mich an
und wollen helfen. Einfach so. Denken, die blasse Fremde hat sich verirrt. Im Grunde stimmt das
ja, bin ich doch hierhergekommen, suche in Thailand nach etwas, was ich in Deutschland
verloren glaube und bislang nicht wiederfinden konnte. Doch heute Abend möchte ich nur
umherstreunen, bis es Zeit zum Schlafen wird. Die Alten sprechen kein Englisch und ich kein
Thai. Unser Lächeln reicht für einige stille Dialoge auf dem Rückweg zum Guesthouse. In einer
Stra.enküche schlürfe ich eine Suppe. Dann falle ich ins Bett.
Die zehn Stunden Schlaf in der letzten Nacht sind rekordverdächtig. Ich habe tief geschlafen und
fühle mich erfrischt. Der Tag kann kommen – ich bin bereit für das Kloster. Um 8 Uhr früh
zuckelt die alte Koksbahn gemütlich ihre vierhundertfünfzig Kilometer gen Norden. In allen
Waggons der dritten Klasse sind die Deckenventilatoren im Eimer. Es ist bereits so warm, als
hätte jemand einen Fön eingeschaltet. Einige Fensterklappen lassen sich noch öffnen, verschaffen
jedoch kaum Luftzug. Mit kleinen bunten Fächern bewedeln Frauen und Männer ihre Kinder und
sich selbst. Die Fahrt wird rußig. Zahllose kleine Kokspartikel flirren durch die Luft, kleben auf
der schweißnassen Haut, nisten sich im Gewebe der Kleidung ein.
Draußen zieht Bangkok vorbei, das reiche und das arme. Fast direkt an die Gleise drängen sich
Wellblechhütten und andere armselige Behausungen, bunte W.schestücke wehen im Wind,
während kleine Kinder im Dreck spielen. Dann wieder die Moderne: Schicke Autos auf glatten
Straßen, postmoderne Architektur. Immer wieder Müll und kleine Stra.enküchen. Auf jedem
Kilometer weht ein anderer Geruch hinein.
Hinter den Außenbezirken der Metropole breitet sich grüne Sumpflandschaft aus. Erste
Reisfelder werden sichtbar. Nah bei den Gleisen waten Störche und weiße Reiher im Lotus und
Schilf umher. Sie wissen, dass der Zug nicht ausschert, heben erst ab, wenn er fast neben ihnen
fährt.
Bei jedem Halt schwärmen Obstverkäuferinnen von beiden Seiten der Waggons hinein und
bieten Mango, Papaya und Ananas als Fingerfood feil. Ich kaufe einige Früchte und würze sie mit
sü.em Chilisalz. Diese Nahrung hält wach und vital in den Tropen, verschafft dem Körper die
Mineralien und Nährstoffe, die er so rasch bei anhaltendem Schwitzen verliert. Bis mittags gegen
13 Uhr ist die Hitze im Zug betäubend. Sie vernebelt mein Gehirn. Unablässig läuft der Schweiß
von der Stirn in die Augen und den Nacken hinab, sorgt für ein permanentes Gekribbel auf der
Haut. Mein als Fächer genutztes Meditationsbuch habe ich bereits durchgeschwitzt – es zerfällt in
seine Einzelteile. Das mechanische Klappern und Ruckeln ist derart einschläfernd, dass nur
Dösen und Schlafen bleibt.
Ob es im Kloster Deckenventilatoren gibt, die die Hitze des Mittags mildern? Es werden ähnliche
Temperaturen herrschen wie hier. Was, wenn ich im Kloster auch einfach wegnicke und
umkippe? Auch gibt es im Schneidersitz keine Rückenlehne wie im Zug. Dafür bleibt dann mein
nassgeschwitztes Kreuz nicht daran kleben wie an diesem beinharten Sitz, überlege ich trotzig.
Ich mache mir Sorgen. Habe plötzlich Angst, es nicht zu schaffen. Noch bevor es überhaupt
angefangen hat, sehe ich mein Vorhaben bereits im Geiste scheitern. Wegen Hitze, Jetlag und
Erschöpfung. Da sind sie also, die ersten Zweifel. Sie schleichen sich an, versuchen meine
Freude auf das Vorhaben zu verdrängen und übernehmen das Regiment. Dabei kann ich noch
nicht wissen, wie es werden wird. Ich muss es erleben, denn die Situation liegt noch in der
Zukunft. Und genau das möchte Vipassana ja vermitteln: die Erfahrung am eigenen Leib und am
eigenen Geist. Heute ist heute, und Kloster ist morgen! Ich schicke die bösen Vorahnungen
zurück in die Wüste, schließe erneut die Augen und schlafe wieder. Offenbar ist es den Zweifeln
auch zu warm. Sie bleiben vorerst auf Abstand.
Am späten Nachmittag wird es endlich kühler. Vermutlich nur ein oder zwei Grad, doch die
fühlen sich an wie zehn. Bangkok liegt weit hinter uns. Die Koksbahn zuckelt durch den
Nordosten Thailands und ist fast leer. Die wenigen Menschen, die zusteigen, sind ärmlich
gekleidet und haben eine dunkle Hautfarbe. Sie mustern mich neugierig. Irgendwann bin ich die
einzige Weiße im Zug.
Rund elf Stunden Fahrt sind vergangen. Aus dem Spiegel des Hotelzimmers starrt mir ein Geist
entgegen. Mein Gesicht ist vollkommen schwarz, die hellblonden Haare zu stumpfem Grau-
Schwarz mutiert. Surreal tritt das Blau und Weiß meiner Augen hervor, die rosa Bluse ist
bleifarben. Ich dusche lange, schrubbe den hartnäckigen Ruß von meiner Haut und versuche
vergeblich, die verkoksten Kleidungsstücke zu waschen. Mittlerweile erkenne ich die Vorteile
eines Erste-Klasse-Tickets.
Es geht auf 23 Uhr zu, als ich hungrig in die Innenstadt wandere. Nach dem endlosen Sitzen ist
der Bewegungsdrang da, auch wenn es bereits viel zu spät ist, um als Frau die unbekannte Stadt
zu erkunden. Es ist der letzte Abend, an dem ich laufen kann, laufen darf – die letzte Nacht,
bevor es ins Kloster geht. Die Straßen Khon Kaens sind spärlich beleuchtet und der Verkehr
gefährlich. Niemand ist bereit, vom Gas zu gehen wie in Bangkok, wo man Reisende meist mit
Fassung und viel Geduld passieren lässt. Um ein Haar werde ich beim Überqueren der Straße
angefahren. Der Schreck ist groß, mein Herz rast. Und da ist es wieder, das Gefühl der eigenen
Verwundbarkeit. Trotz Müdigkeit muss ich achtsamer sein, wenn ich nicht unter die Räder
kommen will.
Die Straßenküchen sind bereits geschlossen, doch auf einem großen Platz in der Nähe findet
Open-Air-Kino statt. Buddha ist mit mir, es läuft ein Musical oder Musikfilm, die Töne klingen
indisch und sind ohrenbetäubend laut. Die aufgestellten Verstärker könnten gut und gerne die
Berliner Loveparade beschallen. Es ist tatsächlich ein indischer Streifen aus der Traumfabrik
Bollywood. Auf der Leinwand wird gerade getanzt. Die Frauen tragen farbenfrohe Saris und sind
atemberaubend schön. Vater und Sohn fechten einen Streit aus und bringen die rauschende
Choreografie zu einem vorzeitigen Ende. Die Frauen beginnen bitterlich zu weinen. Sie
versuchen, die sich nunmehr an den Kragen gehenden Männer zu trennen. Der Film hat keine
Untertitel. Gebannt sitzen die Thais im Schneidersitz auf dem Boden und folgen dem Treiben auf
Hindi.
Ich stehe einfach da und lasse die Szene einsinken. Im anhaltenden Getöse merke ich plötzlich,
wie viel Aufmerksamkeit ich hier errege. Viele Augenpaare von Zuschauern sind auf mich
gerichtet, ohne ein Lächeln. Keine einzige weibliche Thai ist hier anwesend – geschweige denn
eine Weiße. Das Kino ist ein Männerhappening und meine Anwesenheit nicht erwünscht. Für
einen kurzen Moment kriecht nackte Angst in mir hoch. Ich wende mich ab, trolle mich zurück
ins Hotel und gehe hungrig schlafen.
Am Morgen beginnt die Suche nach der Busstation. Ein Mini-Van wird mich dort auflesen und
die verbleibenden dreißig Kilometer in das Kloster Dhamma Suvanna fahren. Im Hotel spricht
niemand Englisch, und einen Stadtplan scheint es nicht zu geben. So suche ich auf der Straße
nach Tuk-Tuk-Fahrern, jenen Akrobaten, die sich, motorisiert auf drei Rädern, allen
Herausforderungen im asiatischen Straßenverkehr stellen. Sie kennen sich aus, haben auf jede
unverstandene Frage eine Antwort.
Binnen weniger Minuten sehe ich mich umringt von zahlreichen Fahrern. Die Männer verstehen
das Wort „Bus“ und zeigen in alle Himmelsrichtungen. Ich habe ein Luxusproblem und erfreue
mich vieler verschiedener Wegbeschreibungen. Keiner versteht mich, ebenso wenig, wie ich die
Männer verstehe.
Eigentlich wird das Reisen in einem solchen Moment besonders interessant: Ich bin angewiesen
auf die Mitmenschlichkeit und Intuition meines Gegenübers, gezwungen zu vertrauen, ja mich
anzuvertrauen, weil mir eine eigene Einschätzung der Lage – der örtlichen Lage der Busstation –
nicht möglich ist. Doch das fällt mir schwer in Gegenwart so vieler Männer, die sich beinahe
überschlagen, um bei mir das Rennen zu machen. Und weil einige bereits nach dem Rucksack auf
meinem Rücken und dem Handgepäck greifen. Und vermutlich gleich nach mir. Wie sehr ich
diese körperlichen Übergriffe hasse. Ich zerre mein Gepäck zurück zu mir und fletsche im Geiste
bereits die Zähne, bin nur noch Angehörige einer Industrienation, nur noch Weiße und will den
gewohnten Radius wahren. Und bleibe dennoch höflich. Der Grad des freundlichen Umgangs ist
erstaunlich schmal hier für eine Frau: Wie breit darf ein Lächeln gelächelt werden?
Immer mehr Männer kommen heran und beraten lautstark über das Fahrziel. Plötzlich drängt ein
Beschlipster durch das Männermeer. Er spricht feinstes US-amerikanisches Englisch und
entschuldigt sich galant für den Mangel nötiger Sprachkenntnis seiner Landsleute. Als wäre nicht
ich diejenige, die hier versäumt hat, sich mit der Landessprache zu rüsten. Der Mann verkündet,
er werde an einem Bildungskongress teilnehmen, der heute im Hotel stattfindet. Das mag ich
mindestens genauso wenig: von gut situierten Männern gerettet werden. Dennoch lasse ich mir
eine Zeichnung von ihm machen. Beschriftet in Thai kann ich sie den Fahrern zeigen. Die
Busstation ist natürlich jedem Fahrer ein Begriff, alle lachen nun, fragen den feinen Herrn nach
meinem Reiseziel. Mein Wunsch, hier zu meditieren, lässt sie staunen: Mit einem Wai, jenem
Respekt erweisenden Nicken, für das hier die Handflächen vor dem Herzen aneinandergelegt
werden und der Kopf sich neigt, danken sie mir diese Antwort.
Es ist noch Zeit bis zur Abfahrt, und so streune ich von der Busstation zum nahe gelegenen
Einkaufszentrum. Die letzten Stunden vor der Klosterstille werden gefüllt mit Kitsch und Krach.
Grelles Neonlicht schreit mich an, blendet mich fast mehr als die tropische Sonne draußen. Der
Rucksack bleibt in der Obhut der schönen jungen Thaifrauen am Informationsschalter. Sie sehen
aus wie Models und tragen Make-up auf einem ohnehin makellosen Teint. Sofort werde ich mir
meiner inzwischen zu Beulen ausgewachsenen Insektenstiche der ersten Reisenacht bewusst.
Dabei ist für Dünnh.uter jeder Abdeckungsversuch sinnlos. Auch bin ich auf dem Weg in die
Reizlosigkeit für die nächsten zehn Tage. Und Mr. X, mein Promi, weilt gerade in Europa, also
tausende Kilometer weit weg. Nur ich muss mein ungeschminktes und verbeultes Gesicht im
Spiegel ertragen, so es im Kloster überhaupt welche gibt.
Der Krach treibt mich in das Untergeschoss der Shoppingmall, doch leiser ist es hier unten
keineswegs. Thais haben in ihren Ohren augenscheinlich keine Abstufung für Dezibel. Sie sind
schmerzfrei, was Lärm betrifft. Eine ganze Hand voll Lärmquellen können gleichzeitig tröten und
flöten, kreischen und quietschen – weder Alte noch Kinder, Frauen oder Männer zeigen kleinste
Anzeichen von Überlärmung. Ein Fernseher in Bangkok kann ein ganzes Dorf beschallen. Auf
den Inseln oder in der Provinz ist es genauso. Nur wir Gestressten aus dem Westen leiden – die
Thais aber lieben es laut. Auch die kleinen Damenboutiquen hier unten werden mit Musik
beschallt – jede Einzelne mit einer anderen. Wenigstens entkomme ich dem Geballer der
Gameboys im Erdgeschoss, an denen die Kinder der shoppenden Mütter sitzen. Ich lächle in
mich hinein, tanke den Krach, wohl wissend, dass mich in wenigen Stunden die absolute Stille im
Kloster erwartet.
Thailands Mode für Frauen erinnert an die Mädchenkleidung in heimatlichen Kinderabteilungen.
Der wunderbare Kitsch, den es hier für Frauen gibt, lullt mich ein. Meine Hände greifen hinein,
fassen alles an, saugen auf, ganz in Erwartung des vollständigen Entzugs vertrauter
Sinneseindrücke. Vor den herrlichen Rüschen, Herzchen und zahllosen Volants, die die
Garderobe der Thailänderinnen zieren, bin ich anatomisch wegen westeuropäischer
Grobschlächtigkeit geschützt. Was in den USA die Konfektionsgröße XXS hat, lautet hier XXL.
Das ist beruhigend. Kein Shoppen, nur Schauen. Dann ein schwacher Moment: smaragdgrüne
Flip-Flops mit Blüten aus glitzernden Glasperlen und Garn bestickt, in meiner Schuhgröße, die
man sonst in Thailand vergeblich sucht – Hilfe! Das Garn ist gewachst, und die Blümchen lassen
sich herrlich modellieren wie eine Skulptur. Ganz sicher werde ich nie wieder die Möglichkeit
haben, solche Latschen zu ergattern, außer im Hier und Jetzt, in Khon Kaen, in Thailand. Keine
dreißig Minuten bevor es in den Totalentzug, in die Isolation geht, gebe ich mich hin und kaufe.
Eine junge Verkäuferin spricht mich an. Sie versucht es ehrgeizig, bemüht sich um Englisch und
mischt es mit Thai. Ganz und gar schief stehen ihre Zähne in dem hübschen Gesicht. Sie weiß es
und hält immer wieder die Hand vor ihren Mund. Es ist gerade diese Unvollkommenheit, die sie
zur Schönheit kürt. Ich lächle nur. Ein ums andere Mal wandert ihr Blick von meinen Augen zu
meinem Haar. Nach vier Haarwäschen ist es wieder hellblond. Sie zeigt darauf und kichert
verschmitzt, wird immer aufgeregter. Das macht mich neugierig, doch ihre Worte bleiben noch
immer unverstanden. Schüchtern holt sie schließlich ein abgegriffenes Büchlein unter dem
Ladentisch hervor. Es ist vollkommen zerlesen. Auf dem Cover ist Jesus Christus abgebildet, in
einem weiß wallenden Gewand und mit langem gelbem Haar. Seine Augen leuchten hellblau.
Stolz berichtet die junge Frau, sie sei 2010 zu den Zeugen Jehovas konvertiert. In mir vermutet
sie eine nahe Verwandte. „Sister!“ – „Sister!!!“ Mit einem strahlenden Lächeln werde ich für die
Schwester von Jesus Christus gehalten. Es ist es kaum auszuhalten, wie ehrfürchtig sie mich
ansieht. Ich bin wohl die erste blonde Europäerin, die die junge Frau zu Gesicht bekommt. Ich
versuche ihr zu erklären, aus welchem Grund ich hier bin. Das ist schwer. Doch das Wort Buddha
versteht sie. Wir lachen beide. Ich sehe sie denken, ihre Zweifel an meinen Worten. „You
Buddha? No, you Sister Jesus!“ Mit verklärtem Blick verabschiedet sie mich, als wäre ich ein
Wunder. Wie gerne möchte ich es zerstören. Ich sehe Religion kritisch, und eine religiöse
Autorität möchte ich noch weniger sein.
Auf den Stufen vor der Shoppingmall gönne ich mir noch einen letzten leiblichen Genuss, bevor
der Speiseplan des Klosters das Regiment übernimmt: Limetten-Hühnchen mit Koriander und
Chili. Es wird einfaches vegetarisches Essen geben, und mir bereitet das bei der Anmeldung
genannte Wort „basic“ irgendwie Unbehagen. Um mich herum futtern Thais und mustern
neugierig das, was ich esse. Dann stehen Männer wie Frauen auf und bringen mir dunkelroten
Sticky Rice – sü.en Klebereis und verschiedene Gemüse, Fisch, gesalzenen Orangensaft und
Servietten. Sie lächeln und nicken, schenken mir ihre Gastfreundschaft. Mir wird ganz warm ums
Herz. Kleine Kinder zeigen mir, wie mit den Händen der Reis in das Curry gedippt und zum
Mund geführt wird. Sie lachen, weil mir ständig etwas aus den Fingern flutscht. Schließlich
bringt ein kleiner alter Mann mir eine Plastikgabel. Wir schmatzen und lächeln, doch geben darf
ich keinen einzigen Baht-Schein, die Thaiwährung, für das köstliche Essen. Man scheucht mich
resolut zurück in den Schatten. Den Mund halten soll ich und aufessen. So leicht geht Teilen hier
in Thailand. Mit vollem Bauch und schwerem Rucksack auf dem Rücken danke ich den
freundlichen Menschen mit einem Wai und wanke zur Busstation.